28.04.2013

Globalisierung


Trotz aller Gegenkräfte ist unter unseren Augen eine neue Welt entstanden. Ihre Konturen treten erst undeutlich hervor, auch weil es ein Wandel voller Widersprüche ist. Wir erleben den Rückgang der Armut und zugleich die anhaltende Unterernährung von Millionen Menschen; den Klimawandel und die Entwicklung der erneuerbaren Energien; neue Infektionskrankheiten und Fortschritte bei der Aids-Bekämpfung; weltweit Steueroasen und die rasante Entwicklung der Informationstechnologien; verschärfte staatliche Repression im Namen des "Kampfes gegen Terror" und erstarkende Freiheitsbewegungen.

Nichts spricht dafür, dass diese neue Welt, in der die Macht weniger konzentriert und breiter verteilt ist, friedlicher oder stabiler sein wird als die vergangene, zumal die Vereinten Nationen große Mühe haben, geeignete Instrumente der politischen Regulierung zu entwickeln. Und unter den aufstrebenden Schwellenländern ist bislang kein einziges auszumachen, das sich von der Diktatur der Märkte befreien wollte. Dennoch bedeutet das Erstarken von Völkern, die bislang keinen großen Einfluss auf die Geschichte nehmen konnten, für die globale Machtbeziehungen einen Schritt zu mehr Gleichberechtigung. 
Der Traum von einer besseren, gerechteren Welt hat die Jahrhunderte überdauert. Die Utopien von heute mögen mit den Hoffnungen von gestern nicht viel mehr geheim haben als das Streben nach einer besseren Zukunft, Doch dieses Streben hat sei jeher eine Vielzahl von Menschen beseelt, die für ihre Zukunftshoffnungen brennen.

Text von Alain Gresh aus Atlas der Globalisierung

23.04.2013

Toleranzkuchen


"Vielleicht werdet ihr ja der neue Friedrichhain", sagt Jonas und ich lache. Ich lache laut auf, als gäbe es keinen abwegigeren Gedanken und ein bisschen, als hinge mein Leben davon ab. Aber sie durchschauen mich. Ihre Designerblicke erkennen das schwitzige Glitzern auf meiner Stirn, den angsterfüllten Ausdruck in meinen Augen. Und ich habe Angst. Panische Angst! Um den Typen, der einem immer Gras andrehen will, während er in unseren Hausflur pinkelt; um meinen Hauswart, der nur grüßt, wenn er morgens besoffen aus dem "See-Tank" stolpert; um den Libanesen von gegenüber, bei dem ich mich nicht traue einzukaufen; meine Nachbarn, die jeden Klingelton als Maxi-Single haben und um "Fränkels Fleischimbiss" in der Müllerhalle, bei dem man zu jeder Bulette einen Stamm Colibakterien gratis dazubekommt. Ich habe Angst, dass die Kinder in meinem Hof nicht mehr mit Schnee, Scheiße und Müll nach einem werfen, sondern kleine Arierkinder mich im Vorübergehen um etwas Mehl und Zucker bitten, weil sie im neuen Kinderladen um die Ecke einen Toleranzkuchen backen möchten. Ich habe Angst, dass im Töpferladen in meiner Straße ein Zentrum für multikulturelle Verständigung aufmacht und Tante Elli ihre Kneipe in Ella umbenennt und nur noch ayurvedische Küche aus der südlichen Bretagne anbietet, dass im alten Möbelladen an der Ecke ein Deli aufmacht, ich im Kiosk gegenüber nur noch Neon, Spex und Bionade bekomme.

Hauptsache nichts mit Menschen - Paul Bokowski

16.04.2013

Die Kunst des Liebens

Der erste Schritt auf diesem Weg ist, sich klarzumachen, daß Lieben eine Kunst ist, genauso wie Leben eine Kunst ist; wenn wir lernen wollen zu lieben, müssen wir genauso vorgehen, wie wir das tun würden, wenn wir irgendeine andere Kunst, zum Beispiel Musik, Malerei, das Tischlerhandwerk oder die Kunst der Medizin oder der Technik lernen wollten.
Welches sind die notwendigen Schritte, um eine Kunst zu erlernen?

Man kann den Lernprozeß in zwei Teile aufteilen: Man muß einerseits die Theorie und andererseits die Praxis beherschen. Aber abgesehen von den Theorie und Praxis muß noch ein dritter Faktor gegeben sein, wenn wir Meister in einer Kunst werden wollen: Die Meisterschaft in dieser Kunst muß uns mehr als alles andere am Herzen liegen; nichts auf der Welt darf uns wichtiger sein als diese Kunst. Das gilt für Musik, wie für Medizin und die Tischlerei - und auch für die Liebe. Und hier haben wir vielelicht auch die Antwort auf unsere Frage, weshalb die Menschen unseres Kulturkreises diese Kunst nur so selten zu lernen versuchen, obwohl sie doch ganz offensichtlich daran scheitern: Trotz tiefen Sehnsucht nach Liebe halten wir doch fast alles andere für wichtiger als diese: Erfolg, Prestige, Geld und Macht. Unsere gesamte Energie verwenden wir darauf zu lernen, wie wir diese Ziele erreichen, und wir bemühen uns so gut wie überhaupt nicht darum, die Kunst des Liebens zu erlernen.

Liebe ist nicht in erster Linie eine Bindung an eine bestimmte Person. Sie ist eine Haltung, eine Charakterorientierung, welche die Bezogenheit eines Menschen zur Welt als Ganzem und nicht nur zu einem einigen "Objekt" der Liebe bestimmt. Trotzdem glauben die meisten Menschen, Liebe komme erst durch ein Objekt zustande und nicht aufgrund einer Fähigkeit. Man könnte diese Einstellung mit der eines Menschen vergleichen, der gern malen möchte und der, anstatt diese Kunst zu erlernen, behauptet, er brauche nur auf das richtige Objekt warten und wenn er es gefunden habe, werde er wunderbar malen können.

"Die Kunst des Liebens" von Erich Fromm

06.04.2013

Ein Mann der schläft


Dies ist dein Leben. Dies gehört dir.  Du kannst eine genaue Inventur deines mageren Reichtums machen, die präzise Bilanz deines ersten Vierteljahrhunderts. Du bist fünfundzwanzig Jahre alt und hast neunundzwanzig Zähne, drei Hemden, und acht Socken, einige Bücher, die du nicht mehr liest, einige Schallplatten, die du nicht mehr hörst. Du hast kaum gelebt und doch ist alles schon gesagt, schon vorbei. Die Rollen sind verteilt, die Etikette liegen bereit: vom Topf deiner frühen Kindheit bis zum Rollstuhl deiner alten Tagen stehen alte Sitze da und warten, bis sie dran sind. Deine Abenteuer sind so genau beschrieben, dass der gewaltigste Aufruhr niemanden mit der Wimper zucken ließe. Selbst wenn du auf die Straße läufst und den Leuten die Hüte herunter schlägst, wenn du deinen Kopf mit Kehricht bedeckst, barfuß gehst, Manifeste veröffentlichst, mit dem Revolver auf irgendeinen Usurpator schießt, es wird sich nicht daran ändern: dein Bett im Schlafsaal des Altersheims ist bereits gerichtet. Du wirst dem Teufel nicht deine Seele verkaufen, du wirst dich nicht mit Sandalen an den Füßen in den Ätna stürzen, du wirst nicht das siebte Weltwunder zerstören. Alles ist schon für deinen Tod bereitet: die Kanonenkugel, die dich dahinraffen wird, ist schon seit langem geschmolzen, die Klageweiber, die deinem Sarg folgen werden, sind schon bestimmt.

Warum solltest du auf die Gipfel der höchsten Berge steigen, wenn du nachher doch wieder herunter musst und wenn du dann wieder unten bist, wie schaffst du es, dass du nicht dein ganzes Leben lang davon erzählst, wie du es angestellt hast, um hinaufzuklettern? Warum solltest du so tun, als lebtest du? Warum solltest du weitermachen? Weißt du denn nicht schon alles, was dir zustoßen wird? Bist du nicht schon alles gewesen, was du sein solltest: der würdige Sohn deines Vaters und deiner Mutter, der tapfere kleine Pfadfinder, der gute Schüler, der mehr hätte leisten können, der Jugendfreund, der entfernte Vetter, der schöne Soldat, der arme junge Mann? Einige Anstrengungen, nicht einmal einige Anstrengungen, nur noch einige Jahre und du wirst die mittlere Führungskraft sein, der liebe Kollege. Ein guter Ehemann, ein guter Vater, ein guter Staatsbürger. Ein alter Kämpfer. Nach und nach wirst du die Sprossen des gesellschaftlichen Erfolgs erklimmen..
Nein. Du ziehst es vor, das fehlende Einzelteil des Puzzles zu sein. Du hälst dich raus. Du lässt dich vom Glück nicht anlächeln und setzt nicht alles auf eine Karte. Du spannst den Pflug vor die Ochsen, du wirfst die Flinte ins Korn, du verkaufst die Haut des Bären, den du nicht hast, du isst deinen Weizen am Halm, du trinkst bis zur Neige, du legst die Schlüssel unter die Tür, du gehst, ohne dich umzudrehen. 

Ein Mann der schläft - Georges Perec