09.04.2012

wie am ersten Tag

Leonid nahm seine schwarze Lederbrieftasche und zog aus einem Fach ein vergilbtes Stück Papier, das an den Ecken ausgefranst, zerknittert, fleckig, eingerissen, mit Klebeband repariert war und reichte es mir. Ich hatte Mühe, es zu entziffern. Die wenigen Zeilen in roten, mit der Schreibmaschine getippten Buchstaben verschwammen:
Ich, Leonid Michailowitsch Kriwoschejin, gebe mein Wort, Milene Reynolds nie wiederzusehen, nie wieder Kontakt zu ihr aufzunehmen und ihren Willen bis zum Ende meiner Tage zu respektieren. Ich gebe dieses feierliche Versprechen als Soldat und Inhaber von zwei goldenen Sternen als Held der Sowjetunion. Ausgefertigt zu Paris, Donnerstag, 25. Juni 1953

"[...]Hier glauben manche, ich bereue, wegen eines Abenteuers ohne Zukunft mein Leben ruiniert und meine Stellung verloren zu haben. Ich habe dir schon gesagt, daß ich nichts bereue. Was ich mit ihr 794 Tage lang erlebt habe, war so außergewöhnlich, daß ich für mein ganzes Leben davon erfüllt bin. Ohne zu zögern, würde ich es noch einmal genauso machen. In meinem Unglück bin ich nicht zu bedauern. Ich hatte das Glück Igor zu begegnen und ein paar Freunde zu gewinnen. Freunde behält man sein Leben lang. Wenn du eines Tages am Straßenrand einer Frau begegnest, die dir zuwinkt und dich um Hilfe bittet, bleib auf keinen Fall stehen. Radwechsel ist etwas für Pannenhelfer. Sie sind abgehärtet. Hätte ich mich an die guten alten marxistischen Grundsätze der Arbeitsteilung gehalten, dann säße ich heute nicht hier. Man stopft uns den Schädel mit sinnlosen Prinzipien wie Höflichkeit oder Galanterie voll und bringt uns nicht die Grundregel bei: Mißtrau allen Frauen, die lächeln, sie haben Hintergedanken. Wenn eine Frau nicht lächelt, ist sie natürlich. Wenn sie ins Wasser fällt und um Hilfe ruft, wirf ihr einen Rettungsring zu und geh deines Weges. Das sind elementare Ratschläge, die ein Vater seinem Sohn geben müßte, um ihn vor den Gefahren des Lebens zu schützen. Meiner hat mich nicht gewarnt."
"Etwas verstehe ich nicht, Leonid. Wie kann man eine Frau lieben und nicht darum kämpfen, bei ihr zu sein?"

"Ich habe mein Wort gegeben. Das ist mein Schicksal, meine Art, ihr treu zu sein. Du brauchst nicht geliebt zu werden, um selbst zu lieben. Seit neun Jahren erhält sie jedes Jahr am 5. April einen Mimosenstrauß. Einen anonymen Strauß. Sie weiß ,daß ich ihn schicke. Wenn sie wollte, könnte sie mich wiedersehen. Sie bräuchte nur zu dem Blumenhändler zu gehen, er würde ihr meine Adresse geben. Sie will es nicht. Ich halte mein Versprechen. Vielleicht ändert sie eines Tages ihre Meinung."
"Ihr seid jetzt seit zehn Jahren getrennt. Unmöglich, noch länger daran zu glauben."
"Ich hätte das Kapitel abgeschlossen. Du entscheidest nicht, ob du jemanden liebst oder vergißt. Es ist eine Idee, die dir nie aus dem Kopf geht. Tagsüber lebe ich mit ihr und nachts, wenn ich aufwache, denke ich an sie. Ich bin verliebt wie am ersten Tag. Du kannst einer Frau überdrüssig werden, eine andere wollen. Da ist nicht Liebe, sondern Begehren. Die wahre Liebe ist geistig. Sie spielt sich in deinem Kopf ab und es gibt Tage, an denen ich mir sage, es wäre besser gewesen, sie zu vergessen. Jacky, bring mir einen 102."
Ob wegen der Hunderte Schachpartien, von denen er sich jeden Zug eingeprägt hatte und die ihn zu einem gefürchteten Spieler machten oder wegen seines Abenteuers mit Milene, von dem jede Einzelheit lebendig blieb, Leonid wurde für sein außergewöhnliches Gedächtnis bewundert, aber eben diese Gedächtnis war sein Verhängnis. Es wäre besser gewesen, er wäre einer wie wir, würde sich höchstens an zwei oder drei Partien und nur an die lichten Momente seines Liebeslebens. Wir füchten immer, das Gedächtnis zu verlieren. Es ist die Quelle unserer Leiden. Gut leben wir nur im Vergessen. Das Gedächtnis ist der ärgste Feind des Glücks. Glückliche Menschen vergessen.

Der Club der Unverbesserlichen Optimisten - Jean-Michel Guenassia