19.05.2009

Du bist am Ende – was du bist.



 Faust: Du hörest ja, von Freud’ ist nicht die Rede.
Dem Taumel weih’ ich mich, dem schmerzlichsten Genuss,
Verliebtem Hass, erquickendem Verdruss.
Mein Busen, der vom Wissensdrang geheilt ist,
Soll keinen Schmerzen künftig sich verschließen,
Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist,
Will ich in meinem innern Selbst genießen,
Mit meinem Geist das Höchst’ und Tiefste greifen,
Ihr Wohl und Weh auf meinen Busen häufen,
Und so mein eigen Selbst zu ihrem Selbst erweitern,
Und, wie sie selbst, am End’ auch ich zerscheitern.

Mephistopheles: O glaube mir, der manche tausend Jahre
An dieser harten Speise kaut,
Dass von der Wiege bis zur Bahre
Kein Mensch den alten Sauerteig verdaut!
Glaub’ unser einem, dieses Ganze
Ist nur für einen Gott gemacht!
Er findet sich in einem ew’gen Glanze,
Uns hat er in die Finsternis gebracht,
Und euch taugt einzig Tag und Nacht.

Faust: Allein ich will!

Mephistopheles: Das lässt sich hören!
Doch nur vor einem ist mir bang:
Die Zeit ist kurz, die Kunst ist lang.
[...]

Faust: Was bin ich denn, wenn es nicht möglich ist
Der Menschheit Krone zu erringen,
Nach der sich alle Sinne dringen?

Mephistopheles: Du bist am Ende – was du bist.
Setz’ dir Perücken auf von Millionen Locken,
Setz’ deinen Fuß auf ellenhohe Socken,
Du bleibst doch immer, was du bist.

Faust: Ich fühl’s, vergebens hab’ ich alle Schätze
Des Menschengeists auf mich herbeigerafft,
Und wenn ich mich am Ende niedersetze,
Quillt innerlich doch keine neue Kraft;
Ich bin nicht um ein Haar breit höher,
Bin dem Unendlichen nicht näher.

"Faust - Der Tragödie Erster Teil" von Johann Wolfgang Goethe

14.05.2009

Stellt euch vor

Stellt euch vor, ein Raumschiff landet irgendwo. Die Leute vom Mars (sichtbar oder unsichtbar, das ist eure Entscheidung) verlassen ihr Raumschiff und erleben - irgend etwas. Anschließend schreiben sie ein Protokoll. Dieses Protokoll ist eure Aufgabe. Ob das jetzt ein Bericht aus einem Schwimmbad, von der Autobahn oder von einem ganz anderem Ort ist, liegt an euch.

Kreatives Schreiben VHS Dortmund, 04.03.2009 - Gisela Schalk

Frankreich - zweiter Weltkrieg, nahe Elsars Lohtringen

Stille erfüllt das Land. Weit und breit ist keine Menschenseele zu sehen.Trümmer von Häusern und vereinzelte Kadaver zieren die steinige Berggegend. Der Himmel ist schwarz gekleidet und wird von Kanonengeräuschen erfüllt. Eine kleine Wolkenkette öffnet sich. Ein viereckiger Würfel fällt ambossartig vom Himmel und kugelt den Berg hinunter, dann löst er sich auf. Zwei Wesen erscheinen. Ihre Körper flurosieren im Licht und verformen sich regelmäßig. Sie bestehen aus Atomen und tanzen nebelartig mit der Luft. Gehalten werden sie von einem milchähnlichen Nebel, der ihre leuchtenden Körper umsäumt. Erst scheinen die beiden Körper grün, dann gold und dann gehen sie getrennte Wege. Der erste Nebelkörper entfernt sich vom Donnergeräusch. Es tastet die Umgebung ab. Lernt Felsen kennen, spürt neue Energien. Von der Zusammensetzung des Wassers, unten am Fluss, ist es völlig fasziniert. Die goldschimmernden Atome baden in der Strömung.

Fluss aufwärts reisend, sitzt eine ältere Frau mit ihrem Kind am Fluss. Beide weinen. Das Kind liegt in den Armen der Frau. Weinen und Trauer erfüllt die Umgebung. Der Nebel weicht ab vom Wasser und nähert sich den Beiden. Für den Nebelkörper waren dies völlig neue Energien. Emotionen sind für es völlig unbekannt. Mutter und Kind haben die Augen geschlossen. Der Nebel durchstreift die Frau, fühlt alles mit, lernt alle Atome in ihrem Körper kennen. Ein Ruck geht durch die Atome des Nebels, wie ein Herzschlag.

Ein Herzschlag, der beim anderen Nebelkörper gerade erlischt. Es befindet sich mitten auf dem Schlatfeld und durchsteift gerade den Körper eines SS-Soladten, der von einer Kugel getroffen ist. Die letzten Gedanken widmet er seiner Familie und der Nebel erlebt sie mit. Es flog weiter. Ein Alliierter schießt eine Kugel aus einem Scharfschützengewehr, die ihr Ziel im Kopf eines weiteren SS-Soladten finden sollte. Sie trifft den Nebel. Die Energie der Kugel geht in den Nebel über und dieser breitet sich kurz aus und zieht sich wieder zusammen. Die Kugel fällt zu Boden. Der Scharfschütze merkt nichts. Er hat längst den nächsten Kopf im Visier.

Zu diesem Bild

Der Erzähler gehört selbst nicht zur Geschichte, die er erzählt, sondern ist ihr Urheber und Vermittler. Er ist nicht Teil der dargestellten Welt, sondenr schildert sie von außen, ist der "allwissende Erzähler".
Er kann Zusammenhänge mit zukünftigen oder vergangenen Ereignissen knüpfen, sie kommentieren und Wertungen abgeben. Er kann das Tun verschiedener Charaktere zur gleichen Zeit an verschiedenen Orten schildern. Auch weiß er mehr als die Figuren, kennt deren Gefühls- und Gedankenwelt.
Lassen wir also den allwissenden Erzähler eine Geschichte zum folgenden Bild erzählen:

Kreatives Schreiben VHS Dortmund, 25.03.2009 - Ursula Posse-Kleimann





Dieses Bild stand in Veronicas Vitrine, die unübersehbar im blauen Top darauf zu erkennen war und jeden Morgen nach dem Aufstehen sah sie das Bild an und war den Tränen nahe. Sie war talentiert. Ihre Katze spürte das und strich ihr heilsam um ihr Bein.
"Danke, meine Süße", sagte Veronica, beugte sich hinab und streichelte sie. Der Tag verging und gegen Abend kam Joachim vorbei, ihr Tanzpartner in dem Stück, der Mann an den sie sich lehnt in diesem Bild.
"Wie geht's dir?", fragte er sie auf dem Sofa sitzend.
"Wie soll es mir schon gehen. Ich kann nicht mehr tanzen!"
Sie betrachtete ihr linkes nicht vohandenes Bein. Tränen überkamen sie. Joachim nahm sie in den Arm.
"Hey, ist ja schon gut."
Ein paar Minuten vergingen und Joachim blickte ihr in die Augen.
"Was willst du jetzt machen?"
"Ich werde Sonnenstrahlen schreiben", antwortete sie. Dann griff sie zu einer Blume neben sich und streichelte den Stiel an ihrer Wange mit geschlossenen Augen. Sonnenstrahlen fielen ins Zimmer und verloren sich. Sie träumte ihr eigenes Musical und die Sonnenstrahlen formten menschenähnliche Figuren die tanzten. Joachim sah es.
"Das ist ja unglaublich! Wie machst du das?"
Plötzlich wuchsen Joachim Flügel aus dem Rücken, so wie Veronica es träumte.
"Was tust du. Nein! Nicht!" Joachim schrie vor Schmerz. Als die Flügel aus dem Rücken wuchsen blutete seine ganze Haut. Er musste es stoppen, dachte er. Es waren die höllischten Schmerzen, die er je empfunden hatte. Er nahm ein Kuchenmesser, das auf dem Tisch lag und erstach Veronica. Er stach solange und so oft zu, bis die Flügel verschwanden und die Sonnenstrahlen verblassten. Die Katze lachte schelmisch und leckte Veronicas Blut auf.

09.05.2009

Es muss ein guter da sein

Verehrtes Publikum, jetzt kein Verdruss:
Wir wissen wohl, das ist kein rechter Schluss.
Vorschwebte uns: die goldene Legende.
Unter der Hand nahm sie ein bitteres Ende.
Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen
Den Vorhang zu und alle Fragen offen.
Dabei sind wir doch auf Sie angewiesen
Daß Sie bei uns zu Haus sind und genießen.
Wir können es uns leider nicht verhehlen:
Wir sind bakrott, wenn Sie uns nicht empfehlen!
Vielleicht fiel uns aus lauter Furcht nichts ein
Das kam schon vor. Was könnt die Lösung sein?
Wir könnten keine finden, nicht einmal für Geld.
Soll es ein andrer Mensch sein? Oder eine andre Welt?
Vielleicht nur andere Götter? Oder keine?
Wir sind zerschmettert und nicht nur zum Scheine!
Der einzige Ausweg wär aus diesem Ungemach:
Sie selber dächten auf der Stelle nach
Auf welche Weis dem guten Menschen man
Zu einem guten Ende helfen kann.
Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluss!
Es muss ein guter da sein, muss, muss, muss!



"Der gute Mensch von Sezuan" von Bertolt Brecht