19.07.2014

Fragebogen

Was, meinen Sie, nimmt man Ihnen übel und was nehmen Sie sich selber übel und wenn es nicht dieselbe Sache ist: wofür bitten Sie eher um Verzeihung?

Gesetzt den Fall, Sie haben nie einen Menschen umgebracht: wie erklären Sie es sich, dass es dazu nie gekommen ist?

Lieben Sie jemand?

Tun Ihnen die Frauen leid? Warum? (Warum nicht?)

Wenn in den Händen und Augen und Lippen einer Frau sich Erregung ausdrückt, Begierde usw., weil Sie sie berühren: beziehen Sie das auf sich persönlich?

Haben Sie hinreichende Beweise dafür, dass sich die Frauen für bestimmte Arbeiten, die der Mann für sich als unwürdig empfindet, besonders eignen?

Wenn Sie mit Frauen immer wieder dieselbe Erfahrung machen: denken Sie, dass es an den Frauen liegt, d.h. halten Sie sich infolgedessen für einen Frauenkenner?

Warum müssen wir die Frauen nicht verstehen?

Was empfinden Sie als Verrat?
a. wenn der andere es tut?
b. wenn Sie es tun?

Halten Sie die Dauer einer Freundschaft für ein Wertmaß der Freundschaft?

Welche Hoffnung haben Sie aufgegeben?

Hoffen Sie angesichts der Weltlage:
a. auf die Vernunft?
b. auf ein Wunder?
c. dass es weitergeht wie bisher?

Halten Sie sich für einen guten Freund?

Was halten Sie ferner für unerlässlich, damit Sie eine Beziehung zwischen zwei Personen nicht bloß als Interessen-Gemeinschaft, sondern als Freundschaft empfinden:
a. Wohlgefallen am andern Gesicht
b. dass man sich unter vier Augen einmal gehenlassen kann d.h. Vertrauen, dass nicht alles ausgeplaudert wird
c. politisches Einverständnis
d. dass einer den andern in den Zustand der Hoffnung versetzen kann nur schon dadurch, das er da ist, dass er anruft, dass er schreibt.
e. Nachsicht
f. Mut zum offenen Widerspruch, aber mit Fühlern dafür, wieviel Aufrichtigkeit der gerade noch verkraften kann und also Geduld
g. Ausfall von Prestige-Fragen
h. dass man dem andern ebenfalls Geheimnisse zubilligt, also nicht verletzt ist, wenn etwas auskommt, wovon er nie gesprochen hat
i. Verwandtschaft in der Scham
k. wenn man sich zufällig trifft: Freude, obschon man eigentlich gar keine Zeit hat, als erster Reflex bedierseits
l. dass man für den andern hoffen kann
m. die Gewähr dass der eine wie der andere, wenn eine üble Nachrede über den andern im Umlauf ist, zumindest Belege verlangt, bevor er zustimmt
n. Teffpunkte in der Begeisterung
o. Erinnerungen, die man gemeinsam hat und die wertloser wären, wenn man sie nicht gemeinsam hätte
p. Dankbarkeit
q. dass der eine den andern gelegentlich im Unrecht sehen kann, aber deswegen nicht richterlich wird
r. Ausfall jeder Art von Geiz
s. dass man einander nicht festlegt auf Meinungen, die einmal zur Einigkeiten führten, d.h. dass keiner von beiden sich ein neues Bewusstsein versagen muss aus Rücksicht?

Sind Sie sich selber ein Freund?

Erleben Sie einen Hund als Eigentum?

Können Sie einen Menschen lieben, der früher oder später, weil er Sie zu kennen meint, wenig auf Sie setzt?

Wenn Sie jemand lieben: warum möchten Sie nicht der überlebende Teil sein, sondern das Leid dem andern überlassen?

Wenn Sie gerade keine Angst haben vor dem Sterben: weil Ihnen dieses Leben gerade lästig ist oder weil Sie gerade den Augenblick genießen?

Was erhoffen Sie sich von Reisen?

Wonach richten Sie ihre täglichen Handlungen, Entscheidungen, Pläne, Überlegungen usw, wenn nicht nach einer genauen oder vagen Hoffnung?


Fragebogen - Max Frisch

17.07.2014

Marcel Proust

"Es ist wahrhaftig abscheulich, sein ganzes Leben dem Schreiben eines einzigen Buchs unterzuordnen", erklärte Proust 1912. Die Beschwerde ernst zu nehmen fällt schwer. Von 1908 an bis zu seinem Tod widmete Proust sein ganzes Leben der Arbeit an seinem Monumentalwerk über die Zeit und Erinnerung. "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", das schlussendlich in sieben Bänden und fast anderthalb Millionen Wörtern veröffentlich wurde. 1920 beschloss Proust, sich aus der Gesellschaft zu
rückzuziehen, damit er sich ausschließlich auf seine Arbeit konzentrieren konnte und verbrachte von da an im Grunde den Rest seines Lebens im berühmten Korkzimmer seiner Pariser Wohnung, schlief tagsüber, arbeitet nachts und ging nur dann vor die Tür, wenn er Fakten und Eindrücke für seinen ihn völlig beanspruchenden Roman sammeln musste.
Er wachte am Nachmittag auf - meist gegen 15:00 oder 16:00 Uhr, manchmal auch erst um 18:00 Uhr - und steckte sich zunächst etwas Legras-Pulver an, mit dem er sein chronisches Asthma behandelte. Oft "rauchte" er nur ein paar Prisen der Opium Mischung, gelegentlich tat er dies allerdings stundenlang, bis das Zimmer völlig verqualmt war. Dann klingelte er nach seiner langjährigen Haushälterin und Vertrauten Celeste, damit sie ihm den Kaffee brachte. Das allein war schon ein Ritual für sich. Celeste kam mit einer silbernen Kanne herein, die zwei Tassen starken schwarzen Kaffee enthielt, dazu brachte sie ein Porzellankännchen mit reichlich heißer Milch und auf einer Untertasse ein Croissant - immer aus derselben Bäckerei. Wortlos stellte sie alles auf dem Nachttisch ab und ließ Proust alleine, der sich dann einen Cafe au Lait zubereitete. Celeste wartete in der Küche ob Proust erneut klingeln würde, was bedeutete, dass er ein zweites Croissant ( das sie stets bereithielt) und ein frisches Kännchen heißer Milch wünschte. 
Oft ernährte Proust sich von nichts anderem.

Musenküsse - Mason Currey

14.07.2014

beständig ein Lächeln

»Das Leben ist alles. Das Leben ist Gott. Alles verändert sich, bewegt sich, und diese Bewegung ist Gott. Und solange Leben da ist, ist man sich auch mit Wonne der Gottheit in sich bewußt. Das Leben lieben heißt Gott lieben. Das Schwerste und Beseligendste von allem ist, dieses Leben bei eigenen Leiden, bei unschuldigen Leiden zu lieben.«
»Karatajew!« Unwillkürlich mußte er an diesen denken.
Und plötzlich trat ihm, wie er leibte und lebte, der längst vergessene, milde, alte Lehrer vor die Seele, der ihn in der Schweiz in der Geographie unterrichtet hatte. »Sieh her«, sagte der alte Mann, indem er ihm einen Globus zeigte. Dieser Globus war eine lebendige, wallende Kugel, die keine bestimmten Dimensionen hatte. Die ganze Oberfläche der Kugel bestand aus Tropfen, die fest aneinandergedrückt waren. Und alle diese Tropfen bewegten sich und veränderten ihre Plätze, und bald flossen mehrere in einen zusammen, bald teilte sich einer in viele. Jeder Tropfen war bemüht, sich auszubreiten, möglichst viel Raum einzunehmen; aber andere, die das gleiche Streben hatten, preßten ihn zusammen, vernichteten ihn manchmal, vereinigten sich aber auch manchmal mit ihm zu einem Ganzen.
»Sieh, das ist das Leben«, sagte der alte Lehrer.
»Wie einfach und klar das ist«, dachte Pierre. »Wie ist es nur zugegangen, daß ich das früher nicht gewußt habe!«
In der Mitte ist Gott, und jeder Tropfen strebt danach, sich auszubreiten, um Ihn in möglichst großen Dimensionen widerzuspiegeln. Und der Tropfen wächst und fließt mit andern zusammen und wird zusammengepreßt und verschwindet von der Oberfläche und geht in die Tiefe und taucht wieder empor. Ein solcher Tropfen war auch Karatajew; er ist auseinandergeflossen und verschwunden. »Hast du verstanden, mein Kind?« sagte der Lehrer.
»Hast du verstanden, Donnerwetter!« schrie eine Stimme, und Pierre erwachte.
Und nach alter Gewohnheit stellte er sich die Frage: »Nun, und was jetzt? Was werde ich jetzt tun?« Und sogleich gab er sich selbst die Antwort: »Nichts. Ich werde leben. Ach, wie herrlich!«
Das, womit er sich früher gequält hatte, was er beständig gesucht hatte, nämlich ein Lebensziel, existierte jetzt für ihn gar nicht. Nicht in dem Sinne, daß dieses gesuchte Lebensziel nur jetzt augenblicklich für ihn zufällig nicht existiert hätte, sondern er fühlte, daß es ein solches Lebensziel nicht gab und nicht geben konnte. Und gerade dieses Fehlen eines Lebenszieles verlieh ihm jenes volle, freudige Bewußtsein der Freiheit, das ihn jetzt beglückte. Er konnte kein Lebensziel haben, weil er jetzt den Glauben hatte, nicht den Glauben an irgendwelche Grundsätze oder Worte oder Ideen, sondern den Glauben an den lebendigen, stets zu fühlenden Gott. Vorher hatte er Ihn in Zielen gesucht, die er sich selbst gesetzt hatte. Dieses Suchen nach einem Ziel war nur ein Suchen nach Gott gewesen. Und plötzlich hatte er in seiner Gefangenschaft nicht durch Worte, nicht durch Vernunftschlüsse, sondern durch das unmittelbare Gefühl das erkannt, was ihm schon vor langer Zeit die Kinderfrau gesagt hatte, daß Gott hier und da und überall sei. Er hatte in der Gefangenschaft erkannt, daß Gott in Karatajew größer, unendlicher und unbegreiflicher sei als in dem Baumeister des Weltalls, von dem die Freimaurer redeten. Es war ihm zumute wie jemandem, der das, was er sucht, dicht neben sich vor seinen Füßen findet, nachdem er lange seine Sehkraft angestrengt hat, um in die Ferne zu blicken. Er hatte sein ganzes Leben lang hierhin und dorthin gespäht, über die Köpfe der ihn umgebenden Menschen weg, und das Richtige wäre gewesen, ohne besondere Anstrengung der Augen einfach vor sich hin zu schauen. 
Er hatte es vorher nicht verstanden, in irgenetwas das Große, Unbegreifliche und Unendliche zu sehen. Er hatte nur gefühlt, daß es irgendwo sein müsse, und nach ihm gesucht. In allem Nahen, Begreiflichen hatte er nur das Begrenzte, Kleinliche, Irdische, Sinnlose gesehen. Er hatte sich mit einem geistigen Fernrohr bewaffnet und in die Ferne geschaut, dahin, wo dieses Kleinliche, Irdische, in den Nebel der Ferne gehüllt, ihm groß und unendlich erschien, nur weil es nicht deutlich sichtbar war. So war ihm das westeuropäische Leben, die Politik, die Freimaurerei, die Philosophie, die Philanthropie erschienen. Aber auch in jene Ferne war damals, in den Augenblicken, die er seine Schwäche nannte, sein Geist eingedrungen, und er hatte dort dasselbe Kleinliche, Irdische, Sinnlose gesehen. Jetzt aber hatte er gelernt, das Große, Ewige und Unendliche in allem zu sehen, und warf darum ganz natürlich, um es zu sehen und seinen Anblick zu genießen, jenes Fernrohr weg, durch das er bisher über die Köpfe der Menschen hinweggesehen hatte, und betrachtete freudig um sich herum das ewig sich verändernde, ewig große, unbegreifliche und unendliche Leben. Und in je größerer Nähe er sich die Gegenstände für sein Schauen wählte, um so ruhiger und glücklicher wurde er. Die furchtbare Frage nach dem Warum, die früher alle Bauwerke seines Verstandes zerstört hatte, existierte jetzt für ihn nicht mehr. Jetzt hatte er für diese Frage nach dem Warum in seiner Seele immer die einfache Antwort bereit: weil es einen Gott gibt, jenen Gott, ohne dessen Willen kein Haar von eines Menschen Haupt fällt.
Pierre hatte sich in seinem äußeren Wesen fast gar nicht verändert. Dem Anschein nach war er noch ganz derselbe, der er früher gewesen war. Ebenso wie früher war er zerstreut und schien sich nicht mit dem, was er vor Augen hatte, sondern mit etwas Eigenem, Besonderem zu beschäftigen. Der Unterschied zwischen seinem früheren und seinem jetzigen Zustand bestand darin, daß er früher, wenn er vergessen hatte, was vor ihm war oder was man zu ihm sagte, mit schmerzlich gerunzelter Stirn gleichsam den erfolglosen Versuch machte, etwas von ihm weit Entferntes zu erkennen. Jetzt dagegen war er zwar gleichfalls oft achtlos gegen das, was man ihm sagte und was vor ihm war; aber jetzt schaute er mit einem leisen, gewissermaßen spöttischen Lächeln das an, was vor ihm war, und hörte das an, was man ihm sagte, obwohl er offenbar etwas ganz anderes sah und hörte. Früher hatten ihn die Leute für einen zwar guten, aber unglücklichen Menschen angesehen und sich deshalb unwillkürlich von ihm ferngehalten; jetzt spielte beständig ein Lächeln der Lebensfreude um seinen Mund, und in seinen Augen leuchtete die Anteilnahme an dem Ergehen der andern und die Frage: »Seid ihr auch wohl ebenso zufrieden wie ich?« Und die Leute fühlten sich wohl im Verkehr mit ihm.

Krieg und Frieden - Lew Tolstoi