24.11.2013

Wo ist sie?

Marie zog das dunkelgrüne Kleid an, und obwohl sie Schwiergkeiten mit dem Reißverschluß hatte, stand ich
nicht auf, ihr zu helfen: es war schön anzusehen, wie sie sich mit den Händen auf den Rücken griff, ihre weiße Haut, das dunkle Haar und das dunkelgrüne Kleid; ich war auch froh zu sehen, daß sie nicht nervös wurde; sie kam schließlich ans Bett und ich richtete mich auf und zog den Reißverschluß zu. Ich fragte sie, warum sie denn so schrecklich früh aufstehe, und sie sagte, ihr Vater schliefe erst gegen morgen richtig und würde bis neun im Bett bleiben und sie müsse die Zeitungen unten reinnehmen und den Laden aufmachen, denn manchmal kämen die Schulkinder schon vor der Messe, um Hefte zu kaufen, Bleistifte, Bonbons und: "Außerdem", sagte sie, "Ist es besser, wenn du um halb acht aus dem Haus bist. Ich mache jetzt Kaffee und in fünf Minuten kommst du leise in die Küche runter. Ich kam mir fast verheiratet vor, als ich in die Küche runterkam, Marie mir Kaffee einschenkte und mir ein Brötchen zurechtmachte.[...] 
Es fiel mir schwer, von ihr wegzugehen, sie brachte mich bis zur Ladentür und ich küsste sie in der offenen Tür, daß Schmitz und seine Frau drüben es sehen konnten. Sie glotzten herüber wie Fische, die plötzlich überrascht entdecken, daß sie den Angelhaken schon lange verschluckt haben.[...]
Als ihr Vater hereinkam, hatte ich mich gerade gesetzt, ich stand sofort auf. Er war so verlegen wie ich, auch so schüchtern, er sah nicht böse aus, nur sehr ernst und als er die Hand zur Kaffeekanne austreckte, zuckte ich zusammen, nicht viel, aber merklich. Er schüttelte den Kopf, goß sich ein, hielt mit die Kanne hin, ich sagte danke, er sah mich immer noch nicht an. In der Nacht oben in Maries Bett, als ich über alles nachdachte, hatte ich mich sehr sicher gefühlt. Wie er nun aber da stand, über den Tisch gebeugt, mit der großen Glatze und dem grauen Haarkranz, kam er mir sehr alt vor. Ich sagte leise: "Herr Derkum, Sie haben ein Recht", aber er schlug mit der Hand auf den Tisch, sah mich endlich an, über seine Brille hinweg und sagte: "Verflucht, mußte das sein - und gleich so, daß die ganze Nachbarschaft dran teilhat? Ich war froh, daß er nicht enttäuscht war und von Ehre anfing. "Mußte das wirklich sein - du weißt doch, wie wir uns krummgelegt haben und jetzt", er schloß die Hand, öffnete sie, als wenn er einen Vogel freiließe, "nichts" - "Wo ist Marie?" fragte ich. "Weg", sagte er, "nach Köln gefahren." - "Wo ist sie?" rief ich, "wo?" - "Nur die Ruhe", sagte er, "das wirst du schon erfahren. Ich nehme an, daß du jetzt von Liebe, Heirat und so weiter anfangen willst - spar dir das - los, geh. Ich bin gespannt, was aus dir wird. Geh." Ich hatte Angst, an ihm vorbeizugehen. Ich sagte: "Und die Adresse?" - "Hier", sagte er und schob mir einen Zettel über den Tisch. "Sonst noch was", schrie er, "sonst noch was? Worauf wartest du noch?" - "Ich brauche Geld", sagte ich und ich war froh, daß er plötzlich lachte, es war ein merkwürdiges Lachen, hart und böse, wie ich es erst einmal von ihm gehört hatte, als wir über meinen Vater sprachen.
Er dachte ich wäre beleidigt, aber ich verstand ihn sehr gut. Ich sagte noch: "Schenken Sie mir noch eine Schachtel Zigaretten", und er griff sofort hinter sich ins Regal und gab mir zwei Schachteln. Er weinte. Ich beugte mich über die Theke und küßte ihn auf die Wange. Er ist der einzige Mann, den ich je geküßt habe.

"Ansichten eines Clowns" - Heinrich Böll