12.12.2014

,Es' hat geschossen

Fragt man von hier aus, wie japanische Bogenmeister diese Auseinandersetzung des Schützen mit sich selbst sehen und schildern, so muß ihre Antwort vollends rätselhaft klingen. Denn die Auseinandersetzung besteht für sie darin, daß derSchütze auf sich selbst - und wiederum nicht auf sich selbst - zielt, daß er dabei vielleicht sich selbst - und wiederum nicht sich selbst - trifft und somit in einem Zielender und Ziel, Treffender und Getroffener ist. Oder, um mich einiger Ausdrücke zu bedienen, die Bogenmeistern ans Herz gewachsen sind: es kommt darauf an, daß der Schütze trotz all seinem Tun unbewegte Mitte wird. Dann stellt das Größte und Letzte sich ein: die Kunst wird kunstlos, das Schießen wird zu einem Nichtschießen, zu einem Schießen ohne Bogen und Pfeil; der Lehrer wird wieder zum Schüler, der Meister zum Anfänger, das Ende zum Beginn und der Beginn zur Vollendung.

Ich fragte daher: „Ist es nicht wenigstens denkbar, daß Sie, nach jahrzehntelangem Üben, unwillkürlich und mit geradezu nachtwandlerischer Sicherheit Bogen und Pfeil beim Spannen so in Anschlag bringen, daß Sie, ohne bewußtes Zielen, die Scheibe treffen, ja einfach treffen müssen?" Der Meister, an mein lästiges Fragen längst gewöhnt, schüttelte den Kopf. „Ich will gar nicht in Abrede stellen", sagte er nach einer Weile besinnlichen Schweigens, „daß an dem, was Sie da sagen, etwas sein könnte. Stelle ich mich doch dem Ziel gegenüber', so daß ich es erblicken muß, auch wenn ich mich nicht mit Absicht nach ihm richte. Aber andererseits weiß ich, daß dieses Erblicken nicht genügt, nicht entscheidet, nichtserklärt, denn ich sehe das Ziel, als sähe ich es nicht."

„Dann müßten Sie es auch mit verbundenen Augen treffen", entfuhr es mir. Der Meister sah mich mit einem Blick an, der mich befürchten ließ, als habe ich ihn verletzt, und sagte dann, „Kommen Sie heute abend!" Ich nahm ihm gegenüber auf einem Kissen Platz. Er reichte mir Tee, sprach aber kein Wort. So saßen wir eine lange Weile da. Nichts war zu hören als das singende Brodeln des kochenden Wassers über glühenden Kohlen. Endlich erhob sich der Meister und gab mir einen Wink, ihm zu folgen. Die Übungshalle war hell erleuchtet. Der Meister hieß mich eine Moskitokerze, lang und dünn wie eine Stricknadel, vor der Scheibe in den Sand zu stecken, das Licht im Scheibenstand jedoch nicht anzuknipsen. Es war so dunkel, daß ich nicht einmal dessen Umrisse wahrnehmen konnte, und wenn nicht das winzige Fünklein der Moskitokerze sich verraten hätte, hätte ich die Stelle, an welcher die Scheibe stand, vielleicht geahnt, aber nicht genau auszumachen vermocht. Der Meister „tanzte" die Zeremonie. Sein erster Pfeil schoß aus strahlender Helle in tiefe Nacht. Am Aufschlag erkannte ich, daß er die Scheibe getroffen habe. Auch der zweite Pfeil traf. Als ich am Scheibenstand Licht gemacht hatte, entdeckte ich zu meiner Bestürzung, daß der erste Pfeil mitten im Schwarzen saß, während der zweite die Kerbe des ersten Pfeiles zersplittert und den Schaft ein Stück weit aufgeschlitzt hatte, bevor er sichneben ihm ins Schwarze bohrte. Ich wagte nicht, die Pfeile einzeln herauszuziehen, sondern brachte sie mitsamt der Scheibe zurück. Der Meister schaute sie prüfend an. „Der erste Schuß", sagte er dann, „sei kein Kunststück gewesen, werden Sie meinen, ich sei doch mit meinem Scheibenstand seit Jahrzehnten so vertraut, daß ich sogar bei tiefstem Dunkel wissen müsse, wo sich die Scheibe befindet. Das mag sein, und ich will mich nicht auszureden versuchen. Aber der zweite Pfeil, der den ersten traf - was halten Sie davon? Ich jedenfalls weiß, daß nicht ,ich' es war, dem dieser Schuß angerechnet werden darf. ,Es' hat geschossen und hat getroffen. 

"Zen in der Kunst des Bogenschießen" - Eugen Herrigel

14.11.2014

um die Welt lieben zu lernen



Siddhartha fuhr fort: "Ein Gedanke, es mag so sein. Ich muß dir
gestehen, Lieber: ich unterscheide zwischen Gedanken und Worten nicht
sehr. Offen gesagt, halte ich auch von Gedanken nicht viel. Ich
halte von Dingen mehr. Hier auf diesem Fährboot zum Beispiel war ein
Mann mein Vorgänger und Lehrer, ein heiliger Mann, der hat manche
Jahre lang einfach an den Fluß geglaubt, sonst an nichts. Er hatte
gemerkt, daß des Flusses Stimme zu ihm sprach, von ihr lernte er, sie
erzog und lehrte ihn, der Fluß schien ihm ein Gott, viele Jahre lang
wußte er nicht, daß jeder Wind, jede Wolke, jeder Vogel, jeder Käfer
genau so göttlich ist und ebensoviel weiß und lehren kann wie der
verehrte Fluß. Als dieser Heilige aber in die Wälder ging, da wußte
er alles, wußte mehr als du und ich, ohne Lehrer, ohne Bücher, nur
weil er an den Fluß geglaubt hatte."

„Govinda sagte: „Aber ist das, was du ‚Dinge’ nennst, denn etwas Wirkliches, etwas Wesenhaftes? Ist das nicht Trug der Maja, nur Bild und Schein? Dein Stein, dein Baum, dein Fluss – sind sie denn Wirklichkeiten?“ „Auch dies“, sprach Siddharta, „bekümmert mich nicht sehr. Mögen die Dinge Schein sein oder nicht, auch ich bin als dann ja Schein, und so sind sie stets meinesgleichen. Das ist es, was sie mir so lieb und verehrenswert macht: sie sind meinesgleichen. Das ist es, was sie mir so lieb und verehrenswert macht: sie sind meinesgleichen. Darum kann ich sie lieben. Und dies ist nun eine Lehre, über welche du lachen wirst: die Liebe, o Govinda, scheint mir von allem die Hauptsache zu sein. Die Welt zu durchschauen, sie zu erklären, sie zu verachten, mag großer Denker Sache sein. Mir aber liegt einzig daran, die Welt lieben zu können, sie nicht zu verachten, sie und mich nicht zu hassen, sie und mich und alle Wesen mit Liebe und Bewunderung und Ehrfurcht betrachten zu können."

Siddartha - Herman Hesse

25.10.2014

Der Raum dazwischen

Jetzt wo du älter bist
und du dir Zeit zum sehen nimmst
über deine Schulter zurück
auf einen bestimmten Augenblick
auf die Tage von früher siehst
auf das Wirre von damals triffst

Nun wo du klüger bist
und du es sicher lesen kannst
mit diesem Blick begreifst
den wahren Kern erlangst
was gewesen ist vergibst
dich für anderes bedankst

Da wo du weiter bist
und du dich ziehen lässt
mit neuer Stirn voran
mit anderen spontan
den Rest von dir verstehst
und deiner Seele nach lebst

Talen

gleich einem jungen Krieger

Aus der nüchternen und drückenden Luft der Heimat herausgekommen, tat ich große Flügelschläge der Wonne und Freiheit. Wenn ich sonst im Leben je und je zu kurz gekommen bin, so habe ich doch die absonderliche, schwärmerische Lust der Jugendzeit reich und rein genossen. Gleich einem jungen Krieger, der am blühenden Waldrand rastet, lebte ich in seliger Unruhe zwischen Kampf und Getändel; und wie ein ahnungsvoller Seher stand ich an dunkeln Abgründen, dem Brausen großer Ströme und Stürme lauschend und die Seele gerüstet den Zusammenklang der Dinge und die Harmonie alles Lebens zu vernehmen. Tief und beglückt trank ich aus den vollen Bechern der Jugend, litt in der Stille süße Leiden um schöne, scheu verehrte Frauen und kostete das edelste Jugendglück einer männlich frohen, reinen Freundschaft bis zum Grunde.
In einem neuen Bukskinanzug und mit einer kleinen Kiste voll Bücher und sonstiger Habe kam ich angefahren, bereit mir ein Stück Welt zu erobern und so bald als möglich den Rauhbeinen daheim zu beweisen, daß ich aus einem anderen Holze als die übrigen Camenzinde geschnitten sei. Drei wundervolle Jahre wohnte ich in derselben weithinblickenden, windigen Mansarde, lernte, dichtete, sehnte mich und fühlte alle Schönheit der Erde mich mit warmer Nähe umgeben. Nicht jeden Tag hatte ich etwas Warmes zu essen, aber jeden Tag und jede Nacht und jede Stunde sang und lachte und weinte mir das Herz, einer starken Freude voll, und hielt das liebe Leben heiß und sehnlich an sich gedrückt.

Peter Camenzind - "Herman Hesse"

12.10.2014

in dir selber

Wenn man zusieht, wie zwei moderne Durchschnittsmenschen, die sich eben erst durch Zufall kennen lernen und eigentlich gar nichts Materielles voneinander begehren - wie diese zwei sich gegeneinander benehmen, dann fühlt man es beinahe sinnlich, wie dicht jeder Mensch von einer zwingenden Atmosphäre, von einer Schutzkruste und Abwehrschicht umgeben ist, von einem Netz gewoben aus lauter Ablenkungen und Wünschen, die alle auf unwesentliche Ziele hingerichtet sind, die ihn von allen anderen trennen. Es ist, als dürfe die Seele nur ja nicht zu Wort kommen, als sei es notwendig, sie ganz mit hohen Zäunen zu umgeben, mit Zäunen der Angst und der Scham. Nur die wunschlose Liebe vermag dies Netz zu durchbrechen. Und überall, wo es durchbrochen wird, blickt Seele uns an.

Sitze in der Eisenbahn und beachte zwei Herren, die einander begrüßen, weil der Zufall sie für eine Stunde zu Nachbarn gemacht hat. Ihre Begrüßung ist unendlich merkwürdig, beinahe ein Trauerspiel. Aus Urfernen der Fremde, Kälte, aus einsamen vereisten Polen her scheinen diese harmlosen Leute einander zu begrüßen, sie scheinen jeder für sich in einer Festung von Stolz, gefährdetem Stolz, von Argwohn und Kühle zu wohnen. 
Wohl auch hat auch das Volk der Malaie und Ureinwohner Seele und zeigt in Gruß und Anrede mehr Seele als der Durchschnittsmann bei uns. Aber seine Seele ist nicht die, die wir suchen wollen, obwohl auch sie uns lieb und nah verwandt ist. Die Seele des Primitiven, der noch keine Entfremdung, keine Mühsal einer entgötterten und mechanisierten Welt kennt, ist eine kollektive, schlichte, kindliche Seele, etwas Schönes und Liebliches, aber nicht unser Ziel. Unsere beiden jungen Europäer im Bahnwagen sind schon weiter. Sie zeigen wenig Seele oder gar keine, sie scheinen ganz aus organisiertem Wollen, aus Verstand, Absicht, Plan zu bestehen. Sie haben ihre Seele verloren in der Welt des Geldes, der Maschinen, des Misstrauens. Sie sollen sie wiederfinden und sie werden krank werden und leiden, wenn sie die Aufgabe versäumen. Aber was sie dann haben werden, wird nicht die verlorene Kinderseele mehr sein sondern eine weit feinere, weit persönlichere, weit freiere und verantwortungsfähigere. Nicht zum Kinde, zum Primitiven zurück sollen wir, sondern weiter, vorwärts, zu Persönlichkeit, Verantwortlichkeit, Freiheit.

Frage deine Seele! Frage sie, die Zukunft bedeutet, die Liebe heißt! Frage nicht deinen Verstand, suche nicht die Weltgeschichte nach rückwärts durch! Deine Seele wird dich nicht anklagen, du habest dich zu wenig um Politik gekümmert, habest zu wenig gearbeitet, die Feinde zu wenig gehaßt, die Grenzen zu wenig befestigt. Aber sie wird vielleicht klagen, du habest allzu oft vor ihren Forderungen Angst gehabt und dich geflüchtet, du habest nie Zeit gehabt. Und so sei es Millionen gegangen und wohin man blicke, da machen die Menschen nervöse, gequälte, böse Gesichter, hätten keine Zeit außer fürs Unnütze, für Börse und Sanatorium.

Von hier aus betrachtet, sieht Europa aus wie ein Schläfer, der in Angstträumen um sich haut und sich selber verletzt. Ja, erinnerst du dich, dass ein Professor dir einmal Ähnliches gesagt hat, dass die Welt am Materialismus und am Intellektualismus leide. Der Mann hat recht, aber er wird dein Arzt nicht sein können, so wenig wie sein eigener. Bei ihm redet die Intelligenz bis zur Selbstvernichtung weiter.
Möge der Weltlauf gehen, wie er wolle, einen Arzt und Helfer, eine Zukunft und neuen Antrieb wirst du immer nur in dir selber finden, in deiner armen, mißhandelten, geschmeidigen, nicht zu vernichtenden Seele. In ihr ist kein Wissen, kein Urteil, kein Programm. In ihr ist bloß Trieb, bloß Zukunft, bloß Gefühl. Ihr sind die großen Heiligen und Prediger gefolgt, die Helden und Dulder, ihr die großen Feldherren und Eroberer, ihr die großen Zauberer und Künstler.

Kurz, es kommt, wenn ein Mensch das Bedürfnis hat, sein Leben zu rechtfertigen, nicht auf eine objektive, allgemeine Höhe der Leistung an, sondern eben darauf, dass er sein Wesen, das ihm Mitgegebene, so völlig und rein wie möglich in seinem Leben und Tun zur Darstellung bringe.

"In jedem Anfang wohnt ein Zauber inne" - Hermann Hesse

05.10.2014

so circa fünf frauen nach dir

treffe ich dich zufällig wieder in den gängen
eines supermarkts und starre befangen
in deinen einkaufswagen

du kaufst immer noch den saft
derselben marke und ich spür den geschmack
deiner lippen auf den meinen

ein brennen plötzlich auswippend in wut
dass wir einander gehen liessen
ohne widerstand

in ein leben aus zweiter hand
nachdem wir uns aus der ersten verstiessen
und höre dich faseln es gehe dir gut

ich sei mit mir und der welt im reinen
dresche ich phrasen im doppelpack
und kämpfe gegen mich an mit aller kraft

dabei hätten wir uns so manches zu sagen
doch du ahnst nichts von meinem verlangen
wie ich nichts weiss von deinen zwängen

so circa fünf männer nach mir


Christoph W. Bauer

10.09.2014

der Wind frech wie ein Freier dicht an ihre Wange

»Hey, was liest du?« Als ich nach vorne sah wusste ich, dass ich nie müde sein werde sie je anzusehen.
»Hey, Krieg und Frieden, wenn dir das was sagt.«, antwortete ich und sah ein wages Lächeln durch den leichtroten Lipgloss. Ihr Hals und ihre Brüste waren durch einen riesigen braunen Schal verdeckt und ein grün-blaues Blumenhemd, dass sie über einem weißen Top trug, guckte unter dem beigefarbenen Mantel hervor. Was heller schien, ob es die untergehende Sonne war, die ihre Strahlen quer durch den Park warf, oder die rote Mähne von Vera, die ihre blauen Augen umwarben und sich auf ihre Schultern niederlegte, konnte ich in dem Moment nicht sagen.
»Was machst du so spät noch hier, ich hätte dich eher erwartet?«, fragte ich neugierig und legte das Lesezeichen in das Buch.
»Ich war noch in der Bibliothek und musste was für die Uni machen, aber ich habe nicht erwartet, dass du hier her kommst.«, sagte sie und begann sich eine Zigaretten anzuzünden. Ich stand auf und folgte ihr in die Richtung der kleinen Brücke.
»Wie lange sitzt du dort schon?«, fragte sie, ohne mich dabei anzusehen.
»Fünf Tage in etwa, aber manchmal bin ich auch durch den Park gelaufen.«, antwortete ich und musste ihrem skeptischen Blick aus dem Seitenwinkel standhalten, den sie mir beim herauspusten des Zigarettenrauchs zuwarf.
»Was, fünf Tage? Du spinnst ja, warum schreibst du mich nicht einfach an?«, fragte sie mit drängender Stimme und blickt wieder nach vorne.
»Du stellst dir das so einfach vor.«, sagte ich beschwichtigend, als wir den kleinen Hang zur Brücke hinaufgingen. Die Luft wurde kühler, wodurch der Rauch vor meinen Augen scharfe Konturen entwickelte.
»Und fünf Tage dort sitzen ist einfacher oder wie.« fragte sie in einem sarkastischen aber mildem Ton und stoppte auf dem Höhepunkt der Brücke, sah mich kurz an und nahm einen weiteren Zug von ihrer Zigaretten mit einem schweifenden Blick in den Sonnenuntergang. Ich tat ihr gleich und lehnte mich auf die steinere Brüstung der Brücke mit dem Rücken zu ihr.
»Warum bist du hier?«, fragte sie, als der ihr Zigarettenrauch mich von hinten umhüllte.
»Weißt du noch, als du sagtest wie schön der Sonnenuntergang sei und ich sagte, das käme wegen dem Dreck. Ich weiß nun warum du gelacht hast.«, sagte ich und wie eine Antwort umhüllte mich abermals ihr ausgeatmeter Zigarettenduft.
Als ich mich umgedreht hatte, strömte mir ihr rotes Haar entgegen, sie hielt ihren linken Arm mit der Zigarette auf dem rechten gestützt und sah mich mit zusammengekniffenen Augen an, als ich auf sie zu ging. »Dass du dich an sowas noch erinnerst.«, antwortete sie.
»An jede Einzelheit erinnere ich mich.«, begegente ich mit einem wachen Blick in ihre ausdruckblauen Augen, die sich plötzlich von ihrem zusammengekniffenen Zustand lösten und sich zunehmend öffneten, ungeachtet der blendenen Sonne in meinem Rücken.
Als ich vor ihr stand, holte ich das Messer raus, dass ich zuvor gekauft hatte. Es war so wenig stumpf wie jedes Eheleben, denn als ich es durch meine Hand gleiten ließ, malte das kalte Metall eine Kerbe in die Epidermis, doch verletze sie nicht. Eine kleine Druckstelle blieb und verschwand in wenigen Sekunden. Ich zeigte ihr, wie die Klinge sich an meine Hand schmiegt. Sie sah gebannt auf meine Hand und wirkte wie erstarrt.
»Vertraust du mir.«
Ihr Gesicht ziemte sich jedem Mienenspiel, einzig den letzten angehaltenen Zigarettenhauch atmete sie schließlich in gespannter Erwartung aus.
»Schließ die Augen.«, befahl ich.
Ich griff nach der Hand mit der Zigarette, die sie am Mund hielt, streckte sie aus und drehte die Handinnenfläche nach oben, wobei sie zwischen Zeige- und Mittelfinger die Zigarette hielt. Ich öffnete die einzelnen Finger mit größter Sorgfalt.
»Ich will, dass du dich konzentrierst. Dein ganzes Gefühl liegt in dieser Hand. Du spürst die eiskalte Luft, die deine Finger zerreißt. Du spürst meine Hand, dich wärmend.«, sagte ich, während ich ihre Hand von unten hielt.
Mit der anderen setzte ich die Klinge sanft an ihrem Handgelenk an und ließ sie über die Handinnenfläche gleiten.
Ihr lipglossumzogener Mund öffnete sich leicht und ihr warmer Atem entrann aus der zitternden Unterlippe, die nicht unterscheiden konnte, ob es die  Angst oder Kälte war, die es veranlasste sich willkürlich zu bewegen.
»Das was du jetzt spürst bin ich. Der Schmerz der durch dich zieht.« Die Klinge nahm ihren Lauf, wanderte über ihren Mittelfinger zu ihrer Fingerspitze.
»Ich werde immer zu dir stehen und dich.. unaufhörlich lieben«
Die Spitze der Klinge glitt von ihrer Fingerspitze und sie ließ die Zigarette zu Boden fallen. Ich küsste ihre Handinnenfläche, als sie wieder die Augen öffnete, die mich starr ansahen und noch immer hielt ich ihre Hand und spürte an meinen Fingern an ihrem Handgelenk den schnellen Puls, während ich die Klinge mit der anderen Hand einfuhr und ihr ein warmes Lächeln zuwarf. Während der eiskalte Wind behaglich an meinen Fingern nagte, vergingen einige Sekunden Stille, bis sie sich mir näherte und mir ihre nach Erdbeer schmeckenden Lippen auf den Mund drückte.
»Lass uns gehen.«, flüstere sie schließlich mit dem selben wachen Blick, den ich zuvor hatte.
Sie wohnte  nicht weit vom Park, vielleicht ein zehnminütiger Fußmarsch, den wir wortlos hinter uns ließen. Immer ging ich hinter ihr, um den wagen Duft ihrer Weiblichkeit und das dezente Parfüm zu spüren und manchmal drehte sie sich um und einmal, kurz vor ihrer Haustüre, lehnte sich der Wind frech wie ein Freier dicht an ihre Wange, presste ihren beigefarbenen Mantel an ihre Beine, sodass ihr Haar flog, doch sie lachte ihn nur frech aus während der Drehung und warf mir einen flüchtigen Blick zu. Da fragte ich mich ernsthaft, wenn nichtmal der Wind ihr etwas anhaben konnte, wie konnte ich mir anmaßen auf sie zu bestehen. 

"Verling" - Talen D


31.08.2014

ein anderes Gefühl von Liebe


Es genügte mir nicht, einfach zu lieben, nachdem ich den Rausch unseres ersten Glücks ausgekostet hatte. Mich verlange nach Aufregungen, nach Gefahren, nach Gelegenheiten, mich für meine Liebe aufzuopfern. Ich litt an einem Überschuß an Kraft, die ich in unserem stillen Leben nirgends anwenden konnte. Ich wurde von Schwermutsanwandlungen befallen, die ich wie etwas Schlechtes vor ihm zu verbergen trachtete und dann wieder von Ausbrüchen übertriebener Zärtlichkeit und Fröhlichkeit, die ihn erschreckten. 
Mein Geist und auch mein Herz waren beschäftigt, aber daneben gab es noch ein anderes Gefühl - das Bedürfnis der Jugend nach Bewegung, das in unserem stillen Leben keine Befriedigung fand. Warum nur hatte er zu mir gesagt, wir könnten jederzeit in die Stadt übersiedeln, sobald ich es wünschte?


"Wie jung du noch bist und wie alt ich doch bin", sagte er mit einem ruhigen, milden und wie, wie mir schien, fast greisenhaft verklärten Lächeln. "Was du in mir suchst, kann ich dir nicht mehr geben - warum sollte man sich selbst täuschen?", fügte er, immer noch lächelnd, hinzu. 
Ich stand schweigend neben ihm und fühlte, wie mein Herz ruhiger wurde.
"Wir wollen uns nicht bemühen, abgelaufenes Leben zu wiederholen", fuhr er fort, "wir wollen uns nichts vormachen. Und dass es mit den früheren Sorgen und Aufregungen vorbei ist, dafür können wir nur dankbar sein. Wir brauchen nichts mehr zu suchen, uns nicht mehr aufzuregen. Wir haben es bereits gefunden und können mit dem Maß von Glück zufrieden sein, das uns zuteil geworden ist. Jetzt müssen wir uns allmählich bescheiden und dem da den Weg frei machen. Er zeigte auf die Amme, die mit Wanja aus dem Zimmer gekommen und an der Tür stehengeblieben war. "So ist es, mein Herz.", schloss er und zog meinen Kopf zu sich heran, um mich zu küssen. Es war nicht der Geliebte, sondern ein alter Freund, der mich küsste."
Aus dem Garten drang immer stärker und bedrückender der Duft der nächtlichen Frische herüber; alle Laute und die Stille muteten immer feierlicher an und immer zahlreicher flammten am Himmel die Sterne auf. Ich sah meinen Mann an und mir wurde plötzlich leicht ums Herz; es war, als sei ich von einem schmerzhaften Nerv befreit worden, der mich so lange gemartert hatte. Mit einemmal erkannte ich in aller Ruhe und Klarheit, dass das Gefühl jener Zeit ebenso unwiederbringlich vergangen war wie die Zeit selbst und dass ein Wiederwachrufen dieses Gefühl nicht nur unmöglich sei, sondern auch bedrückend und lästig wäre. Und war jene Zeit wirklich so schön gewesen, wie ich sie in Erinnerung hatte? Das alles lag ja schon weit, so endlos weit zurück...
Mit diesem Tag endete die Liebesgeschichte zwischen mir und meinem Mann. Das frühere, unwiederbringliche Gefühl war zu einer teuren Erinnerung geworden und ein anderes von der Liebe zu den Kindern und dem Vater meiner Kinder bestimmtes Gefühl legte den Grund zu einem neuen, freilich ganz andesgearteten Lebensglück, das auch heute noch andauert...

"Die Kreutzersonate" - Lew Tolstoi

08.08.2014

Gejagter

Verliebt in eine Frau, bis sie mir entfiel.
Geliebt die Welt, fliegen zu lernen das Ziel.
Zu lieben gelernt mich selbst, eine Brise kam ins Spiel.
Erlöst durch das Wetter

Langsam laufe ich durch den Raum, aufmerksam und bereit.
Der Wettkampf interessiert mich kaum, besonders befreit.
Jene Gesichter nur ein Traum, es gibt keine Zeit.
Riechst du das Wetter

Der Sommerurlaub zieht vorbei, alles ist Leben.
Das zehnte Weihnachten nebenbei, die Gegenwart erleben.
Endlose Möglichkeiten bestehen, ohne umzudrehen.
Achte auf das Wetter

Immernoch hier, halte an nichts fest.
Im Leben so jung, mit ruhiger Atmung.
Sehe mit Neugier, auf meine Mitteilung:

Lauf durch den Fluss, wie ein gejagtes Tier,
nur ein Schuss und du bist nicht mehr hier.

19.07.2014

Fragebogen

Was, meinen Sie, nimmt man Ihnen übel und was nehmen Sie sich selber übel und wenn es nicht dieselbe Sache ist: wofür bitten Sie eher um Verzeihung?

Gesetzt den Fall, Sie haben nie einen Menschen umgebracht: wie erklären Sie es sich, dass es dazu nie gekommen ist?

Lieben Sie jemand?

Tun Ihnen die Frauen leid? Warum? (Warum nicht?)

Wenn in den Händen und Augen und Lippen einer Frau sich Erregung ausdrückt, Begierde usw., weil Sie sie berühren: beziehen Sie das auf sich persönlich?

Haben Sie hinreichende Beweise dafür, dass sich die Frauen für bestimmte Arbeiten, die der Mann für sich als unwürdig empfindet, besonders eignen?

Wenn Sie mit Frauen immer wieder dieselbe Erfahrung machen: denken Sie, dass es an den Frauen liegt, d.h. halten Sie sich infolgedessen für einen Frauenkenner?

Warum müssen wir die Frauen nicht verstehen?

Was empfinden Sie als Verrat?
a. wenn der andere es tut?
b. wenn Sie es tun?

Halten Sie die Dauer einer Freundschaft für ein Wertmaß der Freundschaft?

Welche Hoffnung haben Sie aufgegeben?

Hoffen Sie angesichts der Weltlage:
a. auf die Vernunft?
b. auf ein Wunder?
c. dass es weitergeht wie bisher?

Halten Sie sich für einen guten Freund?

Was halten Sie ferner für unerlässlich, damit Sie eine Beziehung zwischen zwei Personen nicht bloß als Interessen-Gemeinschaft, sondern als Freundschaft empfinden:
a. Wohlgefallen am andern Gesicht
b. dass man sich unter vier Augen einmal gehenlassen kann d.h. Vertrauen, dass nicht alles ausgeplaudert wird
c. politisches Einverständnis
d. dass einer den andern in den Zustand der Hoffnung versetzen kann nur schon dadurch, das er da ist, dass er anruft, dass er schreibt.
e. Nachsicht
f. Mut zum offenen Widerspruch, aber mit Fühlern dafür, wieviel Aufrichtigkeit der gerade noch verkraften kann und also Geduld
g. Ausfall von Prestige-Fragen
h. dass man dem andern ebenfalls Geheimnisse zubilligt, also nicht verletzt ist, wenn etwas auskommt, wovon er nie gesprochen hat
i. Verwandtschaft in der Scham
k. wenn man sich zufällig trifft: Freude, obschon man eigentlich gar keine Zeit hat, als erster Reflex bedierseits
l. dass man für den andern hoffen kann
m. die Gewähr dass der eine wie der andere, wenn eine üble Nachrede über den andern im Umlauf ist, zumindest Belege verlangt, bevor er zustimmt
n. Teffpunkte in der Begeisterung
o. Erinnerungen, die man gemeinsam hat und die wertloser wären, wenn man sie nicht gemeinsam hätte
p. Dankbarkeit
q. dass der eine den andern gelegentlich im Unrecht sehen kann, aber deswegen nicht richterlich wird
r. Ausfall jeder Art von Geiz
s. dass man einander nicht festlegt auf Meinungen, die einmal zur Einigkeiten führten, d.h. dass keiner von beiden sich ein neues Bewusstsein versagen muss aus Rücksicht?

Sind Sie sich selber ein Freund?

Erleben Sie einen Hund als Eigentum?

Können Sie einen Menschen lieben, der früher oder später, weil er Sie zu kennen meint, wenig auf Sie setzt?

Wenn Sie jemand lieben: warum möchten Sie nicht der überlebende Teil sein, sondern das Leid dem andern überlassen?

Wenn Sie gerade keine Angst haben vor dem Sterben: weil Ihnen dieses Leben gerade lästig ist oder weil Sie gerade den Augenblick genießen?

Was erhoffen Sie sich von Reisen?

Wonach richten Sie ihre täglichen Handlungen, Entscheidungen, Pläne, Überlegungen usw, wenn nicht nach einer genauen oder vagen Hoffnung?


Fragebogen - Max Frisch

17.07.2014

Marcel Proust

"Es ist wahrhaftig abscheulich, sein ganzes Leben dem Schreiben eines einzigen Buchs unterzuordnen", erklärte Proust 1912. Die Beschwerde ernst zu nehmen fällt schwer. Von 1908 an bis zu seinem Tod widmete Proust sein ganzes Leben der Arbeit an seinem Monumentalwerk über die Zeit und Erinnerung. "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", das schlussendlich in sieben Bänden und fast anderthalb Millionen Wörtern veröffentlich wurde. 1920 beschloss Proust, sich aus der Gesellschaft zu
rückzuziehen, damit er sich ausschließlich auf seine Arbeit konzentrieren konnte und verbrachte von da an im Grunde den Rest seines Lebens im berühmten Korkzimmer seiner Pariser Wohnung, schlief tagsüber, arbeitet nachts und ging nur dann vor die Tür, wenn er Fakten und Eindrücke für seinen ihn völlig beanspruchenden Roman sammeln musste.
Er wachte am Nachmittag auf - meist gegen 15:00 oder 16:00 Uhr, manchmal auch erst um 18:00 Uhr - und steckte sich zunächst etwas Legras-Pulver an, mit dem er sein chronisches Asthma behandelte. Oft "rauchte" er nur ein paar Prisen der Opium Mischung, gelegentlich tat er dies allerdings stundenlang, bis das Zimmer völlig verqualmt war. Dann klingelte er nach seiner langjährigen Haushälterin und Vertrauten Celeste, damit sie ihm den Kaffee brachte. Das allein war schon ein Ritual für sich. Celeste kam mit einer silbernen Kanne herein, die zwei Tassen starken schwarzen Kaffee enthielt, dazu brachte sie ein Porzellankännchen mit reichlich heißer Milch und auf einer Untertasse ein Croissant - immer aus derselben Bäckerei. Wortlos stellte sie alles auf dem Nachttisch ab und ließ Proust alleine, der sich dann einen Cafe au Lait zubereitete. Celeste wartete in der Küche ob Proust erneut klingeln würde, was bedeutete, dass er ein zweites Croissant ( das sie stets bereithielt) und ein frisches Kännchen heißer Milch wünschte. 
Oft ernährte Proust sich von nichts anderem.

Musenküsse - Mason Currey

14.07.2014

beständig ein Lächeln

»Das Leben ist alles. Das Leben ist Gott. Alles verändert sich, bewegt sich, und diese Bewegung ist Gott. Und solange Leben da ist, ist man sich auch mit Wonne der Gottheit in sich bewußt. Das Leben lieben heißt Gott lieben. Das Schwerste und Beseligendste von allem ist, dieses Leben bei eigenen Leiden, bei unschuldigen Leiden zu lieben.«
»Karatajew!« Unwillkürlich mußte er an diesen denken.
Und plötzlich trat ihm, wie er leibte und lebte, der längst vergessene, milde, alte Lehrer vor die Seele, der ihn in der Schweiz in der Geographie unterrichtet hatte. »Sieh her«, sagte der alte Mann, indem er ihm einen Globus zeigte. Dieser Globus war eine lebendige, wallende Kugel, die keine bestimmten Dimensionen hatte. Die ganze Oberfläche der Kugel bestand aus Tropfen, die fest aneinandergedrückt waren. Und alle diese Tropfen bewegten sich und veränderten ihre Plätze, und bald flossen mehrere in einen zusammen, bald teilte sich einer in viele. Jeder Tropfen war bemüht, sich auszubreiten, möglichst viel Raum einzunehmen; aber andere, die das gleiche Streben hatten, preßten ihn zusammen, vernichteten ihn manchmal, vereinigten sich aber auch manchmal mit ihm zu einem Ganzen.
»Sieh, das ist das Leben«, sagte der alte Lehrer.
»Wie einfach und klar das ist«, dachte Pierre. »Wie ist es nur zugegangen, daß ich das früher nicht gewußt habe!«
In der Mitte ist Gott, und jeder Tropfen strebt danach, sich auszubreiten, um Ihn in möglichst großen Dimensionen widerzuspiegeln. Und der Tropfen wächst und fließt mit andern zusammen und wird zusammengepreßt und verschwindet von der Oberfläche und geht in die Tiefe und taucht wieder empor. Ein solcher Tropfen war auch Karatajew; er ist auseinandergeflossen und verschwunden. »Hast du verstanden, mein Kind?« sagte der Lehrer.
»Hast du verstanden, Donnerwetter!« schrie eine Stimme, und Pierre erwachte.
Und nach alter Gewohnheit stellte er sich die Frage: »Nun, und was jetzt? Was werde ich jetzt tun?« Und sogleich gab er sich selbst die Antwort: »Nichts. Ich werde leben. Ach, wie herrlich!«
Das, womit er sich früher gequält hatte, was er beständig gesucht hatte, nämlich ein Lebensziel, existierte jetzt für ihn gar nicht. Nicht in dem Sinne, daß dieses gesuchte Lebensziel nur jetzt augenblicklich für ihn zufällig nicht existiert hätte, sondern er fühlte, daß es ein solches Lebensziel nicht gab und nicht geben konnte. Und gerade dieses Fehlen eines Lebenszieles verlieh ihm jenes volle, freudige Bewußtsein der Freiheit, das ihn jetzt beglückte. Er konnte kein Lebensziel haben, weil er jetzt den Glauben hatte, nicht den Glauben an irgendwelche Grundsätze oder Worte oder Ideen, sondern den Glauben an den lebendigen, stets zu fühlenden Gott. Vorher hatte er Ihn in Zielen gesucht, die er sich selbst gesetzt hatte. Dieses Suchen nach einem Ziel war nur ein Suchen nach Gott gewesen. Und plötzlich hatte er in seiner Gefangenschaft nicht durch Worte, nicht durch Vernunftschlüsse, sondern durch das unmittelbare Gefühl das erkannt, was ihm schon vor langer Zeit die Kinderfrau gesagt hatte, daß Gott hier und da und überall sei. Er hatte in der Gefangenschaft erkannt, daß Gott in Karatajew größer, unendlicher und unbegreiflicher sei als in dem Baumeister des Weltalls, von dem die Freimaurer redeten. Es war ihm zumute wie jemandem, der das, was er sucht, dicht neben sich vor seinen Füßen findet, nachdem er lange seine Sehkraft angestrengt hat, um in die Ferne zu blicken. Er hatte sein ganzes Leben lang hierhin und dorthin gespäht, über die Köpfe der ihn umgebenden Menschen weg, und das Richtige wäre gewesen, ohne besondere Anstrengung der Augen einfach vor sich hin zu schauen. 
Er hatte es vorher nicht verstanden, in irgenetwas das Große, Unbegreifliche und Unendliche zu sehen. Er hatte nur gefühlt, daß es irgendwo sein müsse, und nach ihm gesucht. In allem Nahen, Begreiflichen hatte er nur das Begrenzte, Kleinliche, Irdische, Sinnlose gesehen. Er hatte sich mit einem geistigen Fernrohr bewaffnet und in die Ferne geschaut, dahin, wo dieses Kleinliche, Irdische, in den Nebel der Ferne gehüllt, ihm groß und unendlich erschien, nur weil es nicht deutlich sichtbar war. So war ihm das westeuropäische Leben, die Politik, die Freimaurerei, die Philosophie, die Philanthropie erschienen. Aber auch in jene Ferne war damals, in den Augenblicken, die er seine Schwäche nannte, sein Geist eingedrungen, und er hatte dort dasselbe Kleinliche, Irdische, Sinnlose gesehen. Jetzt aber hatte er gelernt, das Große, Ewige und Unendliche in allem zu sehen, und warf darum ganz natürlich, um es zu sehen und seinen Anblick zu genießen, jenes Fernrohr weg, durch das er bisher über die Köpfe der Menschen hinweggesehen hatte, und betrachtete freudig um sich herum das ewig sich verändernde, ewig große, unbegreifliche und unendliche Leben. Und in je größerer Nähe er sich die Gegenstände für sein Schauen wählte, um so ruhiger und glücklicher wurde er. Die furchtbare Frage nach dem Warum, die früher alle Bauwerke seines Verstandes zerstört hatte, existierte jetzt für ihn nicht mehr. Jetzt hatte er für diese Frage nach dem Warum in seiner Seele immer die einfache Antwort bereit: weil es einen Gott gibt, jenen Gott, ohne dessen Willen kein Haar von eines Menschen Haupt fällt.
Pierre hatte sich in seinem äußeren Wesen fast gar nicht verändert. Dem Anschein nach war er noch ganz derselbe, der er früher gewesen war. Ebenso wie früher war er zerstreut und schien sich nicht mit dem, was er vor Augen hatte, sondern mit etwas Eigenem, Besonderem zu beschäftigen. Der Unterschied zwischen seinem früheren und seinem jetzigen Zustand bestand darin, daß er früher, wenn er vergessen hatte, was vor ihm war oder was man zu ihm sagte, mit schmerzlich gerunzelter Stirn gleichsam den erfolglosen Versuch machte, etwas von ihm weit Entferntes zu erkennen. Jetzt dagegen war er zwar gleichfalls oft achtlos gegen das, was man ihm sagte und was vor ihm war; aber jetzt schaute er mit einem leisen, gewissermaßen spöttischen Lächeln das an, was vor ihm war, und hörte das an, was man ihm sagte, obwohl er offenbar etwas ganz anderes sah und hörte. Früher hatten ihn die Leute für einen zwar guten, aber unglücklichen Menschen angesehen und sich deshalb unwillkürlich von ihm ferngehalten; jetzt spielte beständig ein Lächeln der Lebensfreude um seinen Mund, und in seinen Augen leuchtete die Anteilnahme an dem Ergehen der andern und die Frage: »Seid ihr auch wohl ebenso zufrieden wie ich?« Und die Leute fühlten sich wohl im Verkehr mit ihm.

Krieg und Frieden - Lew Tolstoi

10.05.2014

you are not your stuff

I came home one day and it was all gone.
If my 28 year-old self would have walked into the home of my 30 year-old self, he would have thought he’d been robbed.
Where did all my stuff go? He would have thought. I worked so hard to buy all that stuff, and now it’s all gone!

My 28 year-old self would have panicked when he noticed that over 90% his stuff was no longer there. It was gone. Vanished. Poof! He had given so much meaning to that stuff—the car, the clothes, the gadgets, the trappings of a consumer culture that he was a part of—but that stuff didn’t have any real meaning.
He was part of the disease, not the cure.
There were so many lessons he learned in those two years…
How to start:
Let’s play a little game together.
Find a friend or family member. Someone who’s willing to get rid of some of their excess stuff. This month, each of you must get rid of one thing on the first day of the month. On the second, two things. Three items on the third. So forth, and so on. Anything can go! Clothes, furniture, electronics, tools, decorations, etc. Donate, sell, or trash. Whatever you do, each material possession must be out of your house—and out of your life—by midnight each day.
It’s an easy game at first. However, it starts getting challenging by week two, when you’re both jettisoning more than a dozen items each day. Whoever can keep it going the longest wins. You both win if you can make it all month. Bonus points if you play with more than two people.

15.04.2014

Die Reise



Küstennebel inhaliert, den Blick geschärft, den Kurs markiert,
den Plan verworfen, die Schuh geschnürt, den Weg gekannt und doch verirrt.
Aufgestanden, umgekehrt, zurückmarschiert, auch verkehrt.
Dort geht es lang, hab ich gehört, ganz allein und ungestört.

So zog ich hin, Tag aus, Tag ein und wollt nur eins, wollt freier sein.
Freier sein, die Welt entdecken und beide Hände gen Himmel strecken.
Über Klüfte, über Klippen springen und nebenher zwei Lieder singen
Eins von Panama, eins von Peru. Und aus der Ferne schaust du mir zu...

Hier steh ich nun, die Sterne zum greifen nah, doch jetzt steh ich alleine da
Weiß auch nicht mehr, wer ich bin. Wo führt mich meine Reise hin?
War ich vielleicht schon angekommen und hatte es nur nicht wahrgenommen?
Bin doch gereist um mich zu finden, nun bleibt mir nur das zu überwinden.

Viel gelaufen, kein Mensch gesehen, an dich gedacht und dir entgegen gehen.
Große Berge, klare Seen, weiter Horizont und nichts verstehen.
Eins begreif ich nun, wenn auch nicht mich, das Schönste auf der Welt:
Da gibts nur dich - drum will zu dir streben und von nun an deiner Seite leben.


Sebastian Dommel & Talen

22.03.2014

,die anzuschauen man nie müde wird


Zu Anfang des Winters von 1805 auf 1806 erhielt Pierre von Anna Pawlowna das übliche rosa Briefchen mit einer Einladung; zu der Einladung hatte sie noch die Bemerkung hinzugefügt: "Sie werden bei mir die schöne Helene finden, die anzuschauen man nie müde wird."

Helene trug, wie stets bei Abendgesellschaften, ein nach damaliger Mode vorn und hinten sehr tief ausgeschnittenes Kleid. Ihre Büste, die auf Pierre immer den Eindruck des Marmorartigen gemacht hatte, befand sich in so geringem Abstand von seinen Augen, dass er trotz seiner Kurzsichtigkeit unwillkürlich ihre Schultern und ihren Hals als etwas von reizvollem Leben Erfülltes erkannte, und so nah an seinen Lippen, dass er sich nur ein wenig zu bücken brauchte, um sie zu berühren. Er spürte die Wärme ihres Körpers, roch den Duft ihres Parfüms und hörte das Knistern des Korsetts bei ihren Bewegungen. Er sah jetzt nicht ihre marmorartige Schönheit, die mit dem Kleid zusammen ein einheitliches Ganzes bildete; sondern er sah und fühlte den ganzen Reiz ihres Leibes, dem das Kleid lediglich als Hülle diente. Und nachdem er einmal zu dieser Art des Sehens gelangt war, war er nicht mehr imstande in anderer Weise zu sehen, so wie wir in eine einmal aufgeklärte Täuschung uns nicht wieder zurückversetzen können.
Pierre schlug die Augen nieder, hob sie wieder in die Höhe und wollte in der Prinzessin Helene von neuem nichts weiter als das ihm fernstehende, ihm fremde schöne Mädchen sehen, das er bisher täglich in ihr gesehen hatte; aber dies zu tun, war er nicht mehr imstande. Er war dazu ebensowenig imstande, wie jemand, der im Nebel einen Steppengrashalm gesehen und für einen Baum gehalten hat, nachher, nachdem er gesehen hat, daß es ein Halm ist, von neuem in ihm einen Baum sehen kann. Sie stand ihm auf einmal so nahe, dass ihm beklommen wurde; sie hatte schon Gewalt über ihn. Und zwischen ihm und ihr bestanden jetzt keinerlei Schranken mehr außer denen, die sein eigener Wille errichtete.

"Krieg und Frieden" - Leo Tolstoi

11.02.2014

Mein Pfad ist trüb


Die längst verschollne Lust vergangner Tage
Drückt wie ein Kopfweh mich nach einem Trinkgelage.
Doch meines Herzens Gram dem Weine gleicht,
Der, wie er altert, auch an Stärke steigt.
Mein Pfad ist trüb. Vom grauenvollen Meer
Der Zukunft dröhn Gefahr und Leiden her.

Doch ich will, Freunde, von der Welt nicht scheiden!
Will leben, um zu denken und zu leiden.
Ich weiß, daß zwischen Sorgen, Sturm und Wehen
Auch Lust und Freude mir noch auferstehen.
Ich werde Kunst und Leben neu genießen,
Noch Thränen der Begeisterung vergießen,
Und einst auf meines Grabes trüber Nacht
Vielleicht der Liebe Lebewohl mir lacht.


Alexander Puschkin
Aus dem Russischen von Friedrich Martin Bodenstedt
Alexander Sergejewitsch Puschkin (* 26. in Moskau; † 29. Januar in Sankt Petersburg durch einen Bauchschuss) gilt als russischer Nationaldichter und Begründer der modernen russischen Literatur. Bis zum Einmarsch Napoleons in Moskau 1812 sprach die russische Oberschicht Französisch. Nach dem darauf folgenden Brand Moskaus fragte man sich, warum man eigentlich die Sprache des Feindes spreche. Puschkin bereitete in seinen Gedichten, Dramen und Erzählungen der Verwendung der Umgangssprache den Weg.

16.01.2014

das erste Mal machte

Mit uns war noch eine Braut aus dem Sound gekommen. Tina. Detlef holte das Besteck, einen Löffel und Zitrone aus seiner Plastiktüte. Er tat das Dope auf den Löffel, tröpfelte Wasser und etwas Zitronensaft dazu, damit sich das Zeug, das ja nie ganz rein war, besser löste. Er kochte das Dope mit dem Feuerzeug auf und zog es in die Spritze. Diese alte Einwegsspritze war total verdreckt, die Spritze so stumpf wie eine Stricknadel. Erst machte sich Detlef den Druck und dann Tina. Und dann war die Nadel total verstopft. Da ging überhaupt nichts mehr durch. Jedenfalls behaupteten die beiden das. Vielleicht wollte sie auch nur nicht, dass ich mir einen Druck machte. Ich war aber jetzt erst recht wild darauf.
Da war noch ein Fixer auf der Toilette, völlig runtergekommen. Ich fragte ihn, ob er mir sein Besteck ausleihen könne. Der machte das. Jetzt hatte ich aber doch urischen Horror, mir die Nadel in die Vene an der Armbeuge reinzuhauen. Ich setzte an und schaffte es einfach nicht, obwohl ich es ja bei anderen schon oft gesehen hatte. Detlef und Tina taten so, als ginge sie das überhaupt nichts an. Ich mußte also den kaputten Typen bitten, mir zu helfen. Der wußte natürlich sofort, dass ich es das erste Mal machte. Ich kam mir ziemlich blöde gegenüber diesem alten Fixer vor.
Er sagte, er fände das Scheiße, nahm aber dann die Spritze. Da meine Venen kaum zu sehen sind, hatte er Schwierigkeiten, eine Ader zu treffen. Er mußte die Nadel dreimal reinhauen, bis er ein bißchen Blut in die Kanüle hochzog und wußte, daß er in der Vene war. Er murmelte immer wieder, daß er das Scheiße fände und knallte mir das ganze Viertel rein.
Es kam wirklich wie ein Hammer. Aber einen richtigen sexuellen Höhepunkt hatte ich mir schon anders vorgestellt. Ich war gleich danach total abgestumpft. Ich nahm kaum noch etwas wahr und dachte nichts mehr.

Die Kinder vom Bahnhof Zoo - Christiane F.