31.12.2009

Unzucht


Das erste, was ich wahrnehme, ist Tanjas abgestandener Atem. Ihr Mund steht offen, zwischen ihren Zahnreihen klebt ein Speichelfaden.
Ich stelle zu meiner Überraschung fest, dass es noch hell ist, die genaue Uhrzeit kann ich allerdings nicht ermitteln. Mein Kiefer schmerzt, als ob ich stundenlang auf Metall gebissen hätte; meine Kehle ist staubtrocken; mein Magen leer und wund; über allem liegt ein dumpes Schuldgefühl.
Eigentlich hatte ich bis morgen bleiben wollen, aber das ist gänzlich undenkbar geworden. Ich muss hier so schnell wie möglich weg. Noch ist der Abturn erst im anrollen, leckt mit seinen grauen Zungen gerade mal an den Rändern meiner Selbstschutzanlagen. Aber wenn die Hauptlast über mir zusammenschlägt, will ich zwischen meinen Leib und dieses Zimmer den größtmöglichen Abstand gebracht haben.
Vorsichtig schlage ich die Decke zurück, stemme mich in die Höhe und beginne meine Sachen zusammenzusammeln.
Ich würde mich am liebsten im Badezimmer oder in der Küche anziehen, möchte aber Petra nicht begegnen. Und so wähle ich stattdessen die Ecke des Zimmers, die zum Futon die größte Entfernung aufweist.
Tanja wird trotzdem wach. Ich bin gerade dabei, mir die Schuhe zuzubinden, als sie die Augen aufschlägt.
"Willst du weg?"
"Ich muss"

"Unzucht" - Jan Off

20.12.2009

Hamlet

König (im Schauspiel).
Ich glaub, Ihr denket jetzt, was Ihr gesprochen,
Doch ein Entschluss wird oft von uns gebrochen.
Der Vorsatz ist ja der Erinnerung Knecht,
Stark von Geburt, doch bald durch Zeit geschwächt.
Wie herbe Früchte fest am Baume hangen,
Doch leicht sich lösen, wenn sie Reif' erlangen.
Notwendig ist's, dass jeder leicht vergisst
Zu zahlen, was er selbst sich schuldig ist.
Wo Leidenschaft den Vorsatz hingewendet,
Entgeht das Ziel uns, wann sie selber endet.
Der Ungestüm sowohl von Freud' als Leid
Zerstört mit sich die eigne Wirksamkeit.
Laut klagt das Leid, wo laut die Freude schwärmet,
Leid freut sich leicht, wenn Freude leicht sich härmet.
Die Welt vergeht: es ist nicht wunderbar,
Dass mit dem Glück selbst Liebe wandelbar.
Denn eine Frag ' ist's, die zu lösen bliebe,
Ob Lieb' das Glück führt oder Glück die Liebe.
Der Große stürzt: seht seinen Günstling fliehn.
Der Arme steigt und Feinde lieben ihn.
So weit scheint Liebe nach dem Glück zu wählen.
Wer ihn nicht braucht, dem wird ein Freund nicht fehlen,
Und wer in Not versucht den falschen Freund,
Verwandelt ihn sogleich in einen Feind.
Doch um zu enden, wo ich ausgegangen,
Will und Geschick sind stets in Streit befangen.
Was wir ersinnen, ist des Zufalls Spiel,
Nur der Gedank ist unser, nicht sein Ziel.
So denk, dich soll kein zweiter Gatt erwerben.
Doch mag dies Denken mit dem ersten sterben.

"Hamlet" - William Shakespeare

18.12.2009

die Schneeweiße Witwe

Das Furchterregendste an der Schneeweißen Witwe war nicht, was man von ihr sah - sondern das, was man nicht sah. Sie war umgeben von einem Schleier aus schneeweißen Haaren, der ihren Körper vollständig verhüllte. Sie sah aus wie eine kunstvolle Perücke aus langen seidigen Strähnen, als habe sich der Kopf einer Enthaupteten auf seine Haarspitzen gestellt und erhoben, um ihren Henker mit einer schrecklichen Ballettvorstellung zu Tode zu ängstigen. Es schien, als bewege sich die Schneeweiße Witwe unter Wasser oder in der Atmospähre eines fremden Planeten, auf dem andere Naturgesetze herrschten. Hier und da hatte sich einzelne Strähnen aus dem Haar gelöst und wehten hin und her, auf und ab, unwillkürlich träge, als ob sie in einer anderen Zeit existierten.«

»Ja, sie ist wirklich gefährlich«, wisperte Eißpin ergriffen. Er hantierte vorsichtig an den Ventilen, bis das Säuseln verstummte. »Ihr Gift ist zehntausend mal wirkungsvoller als das des giftigsten Skoprions. Sie springt auf kurze Entfernungen schneller als der Blitz. Sie singt im Dunkeln, und wenn du diesen Gesang einmal gehört hast, kannst du ihn niemals wieder vergessen. Nie wieder.«

[...]

Eißpin war jetzt ganz nahe an den Käfig herangetreten. »Wenn sie dich sticht« ,sagte er »oder besser, dich binnen einer Sekunde hundertfach perforiert mit ihren Haarspitzen, dann bist du rettungslos des Todes. Es gibt kein Gegengift, weil sie die Zusammensetzung ihres Giftes täglich verändert. Und was dieses Gift mit deinem Körper anstellt, das ist beispiellos in der Welt der toxischen Substanzen. Der Tod durch die Schneeweiße Witwe ist der schönste und der schrecklichste zugleich, größte Qual und höchstes Entzücken. Der Körper schüttet Unmengen von Glückshormonen aus, um der Qual etwas entgegenzusetzen, und das versetzt dich in eine Agonie des Glücks, in eine Ekstase des Schmerzes, die keinem Lebewesen zu wünschen ist. Deine Haare werden dabei so schlohweiß, wie die ihren. Und dann, wenn dein Herz sich endlich vor Pein zerrissen hat, zerfällt dein Körper zu weißem Puder.«

»Man sagt, die Schneeweiße Witwe komme von dem Planeten, auf dem der Tod selbst wohnt« ,flüstete Eißpin. »Und dass der Tod sie erschaffen habe, um zu erfahren, wie es ist, sich vor etwas zu fürchten. Das ist natürlich Unfug! Der Tod wohnt in uns allen und sonst nirgends. Aber eines ist unbestritten: Sie ist die Königin der Furcht.

"Der Schrecksenmeister" - Walter Moers

12.11.2009

Hier sind ein paar Sommersprossen

Ihr Lächeln verfliegt nicht.
Sie schaut beim Lächeln weiter traurig drein.
Sie erwidert nichts, sondern greift nach ihrer Tasche, kramt darin herum und holt schließlich einen Kassenbon heraus.

Sie fragt mich nach einem Stift, doch ich habe keinen. Also steht sie auf, geht zur Bar und kommt mit einem Kugelschreiber zurück. Sie dreht den Bon um und schreibt etwas auf die leere Rückseite. Beim Schreiben beißt sie sich auf die Unterlippe. Sie reicht mir den Bon. Darauf steht, mit schwarzem Kugelschreiber geschrieben:

Wen auch immer es betrifft:
Hiermit gebe ich dem Inhaber dieses Zettels
die schriftliche Erlaubnis, alles mit mir zu tun,

was ihm in den Kopf kommt, und ich verspreche,
dass es mir nichts ausmachen wird. Wahrscheinlich
wird es mir sogar sehr gut gefallen.
Hochachtungsvoll,
Alice Holborn


Das Vogelzimmer - Chris Killen

08.11.2009

einundzwanzig Gramm

Es heißt, wir alle verlieren 21 Gramm genau in dem Moment, in dem wir sterben. Jeder von uns – 21 Gramm – das Gewicht von fünf 5 Cent Münzen, eines Schokoriegels, das Gewicht eines Kolibris. Wie viel wiegt Liebe? Wie viel wiegt Schuld? Wie viel wiegt Rache? Wie viele Leben leben wir? Wie viele Tode sterben wir? Es heißt wir alle verlieren 21 Gramm, genau in dem Moment in dem der Tod eintritt. Jeder von uns. Wie viel sind 21 Gramm? Wie viel geht verloren? Wann verlieren wir 21 Gramm? Was sind 21 Gramm?

Verlieren wir 21 Gramm, wenn die Liebe endet?
Fragen wir dann, “wieso hast du nach mir gesucht?”
Sagte die große, vielleicht einzige Liebe im Leben nicht “dann sah ich dich das erste Mal, jetzt kann ich nicht mehr ohne dich sein, du brauchst keine angst zu haben”

Eines Tages musste es ohne sie gehen, die Liebe, die das Herz ausmacht, die 21 Gramm sind. Zusammen war man 42 Gramm Lebenskraft. Was bleibt zurück? 21 Gramm Schwäche?
Kann man die Schwäche wiegen? Oder lässt sich Schuld wiegen? Die Schuld, die schwer zurückbleibt.

d_luxe

04.10.2009

then I see the look in your eyes

Ich will mit dir dorthin, wo das Chaos uns umschlingt - dort wo wir verstehn, das wir am Leben sind. - Madsen

Ich will mit dir in irgendeiner Disco auf der Theke tanzen, Blicke auf uns gerichtet, aber wir fühlen nur noch uns - ich will mich fallen lassen, bis mir schwindlig ist von dir und mir.
Ich kann nie aufhören, an dich zu denken.

Und weißt du, warum das so ist? Weil du für mich diese grenzenlose Freiheit symbolisierst, das Leben, Unbeschwertheit. Ohne Gedanken an den Morgen danach. Nur seinen Instinkten folgen statt Häuser zu bauen und Kinder zu bekommen. Sicherheit ist reizvoll, aber in vollen Zügen zu leben ist reizvoller. Sich verlieren, und irgendwie doch gefangen werden. Warme Luft und ausgelassenes Lachen. Herzklopfen - spüren, dass man da ist.

brokenrecord

25.09.2009

Der Sprung ins Ungewisse

Der Krake

Schnell waren die vier Boote auf dem Wasser; Ahabs Boot voran, ruderten sie geschwind auf ihre Beute zu. Da tauchte die Erscheinung unter, und mit eingelegten Riemen warteten wir auf ihre Wiederkehr - sieh! an derselben Stelle, an der sie untergesunken war, stieg sie langsam wieder auf. Fast waren alle Gedanken an Moby Dick für diesen Augenblick vergessen; wir staunten stumm das wundersamste Wesen an, das die verschwiegenen Meere je der Menschheit offenbarten.

Eine ungeheure schlüpfrige Masse, wohl an die zweihundert Meter lang und breit, von sahnig weißem Glanz, trieb auf dem Wasser; unzählige lange Arme strahlten von ihrer Mitte aus und schlangen und wanden sich wie ein Knäuel Anakondas, als wollten sie blindlings jedes unselige Geschöpf ergreifen, das sich in ihre Reichweite verirrte. Kein Vorn und Hinten, kein Gesicht war erkennbar, kein faßliches Zeichen von Empfindung oder Instinkt:vor uns auf den Wellen schlängelte sich ein gespenstisch formloses, wesenloses Stück Leben, unergründbar wie der Zufall.

"Moby Dick" - Hermann Melville

21.09.2009

die entzündete Umgebung

"Und jetzt?", fragte sich Gregor und sah sich im Dunkeln um. Er machte bald die Entdeckung, dass er sich nun überhaupt nicht mehr rühren konnte. Er wunderte sich darüber nicht, eher kam es ihm unnatürlich vor, dass er sich bis jetzt tatsächlich mit diesen dünnen Beinchen hatte fortbewegen können. Im Übrigen fühlte er sich verhätnismäßig behaglich. Er hatte zwar Schmerzen im ganzen Leib, aber ihm war, als würden sie allmählich schwächer und schwächer und würden schließlich ganz vergehen. Den verfaulten Apfel in seinem Rücken und die entzündete Umgebung, die ganz von weichem Staub bedeckt waren, spürte er schon kaum. An seine Familie dachte er mit Rührung und Liebe zurück. Seine Meinung darüber, dass er verschwinden müsse, war womöglich noch entschiedener als die seiner Schwester. In diesem Zustand leeren und friedlichen Nachdenkens blieb er, bis die Turmuhr die dritte Morgenstunde schlug. Den Anfang des allgemeinen Hellerwerdens draußen vor dem Fenster erlebte er noch. Dann sank sein Kopf ohne seinen Willen gänzlich nieder, und aus seinen Nüstern strömte sein letzter Atem schwach hervor.

Franz Kafka - "Die Verwandlung"

19.09.2009

ikea

vor dem ausgang bei ikea stand das ehepaar und rauchte. sie trug nicht einmal eine sonnenbrille. nichts haette das blaugekloppte auge verdecken koennen. ihr mann in muscle shirt trug die taschen. sie durfte sich bestimmt was schoenes aussuchen.

herzbruch

13.09.2009

zum ficken

gerne und gut ficken bedeutet nicht, dass ich es so oft wie möglich will. ich will nur den, der gut riecht. ich will nur den, der auch gut aussieht. ich will nur den, der vor und nach dem sex eine astreine grammatik sein eigen nennt, und während des akts mehr als zwei techniken und mehr als zwei zentimeter. ich will - vorzugsweise - den, der mich liebt, oder aber den, der mich wenigstens achtet und das auch beim sex zum ausdruck bringt.

ich will niemanden ficken, weil es sich gerade anbietet. ich ficke keine gelegenheiten. das habe ich mit 16 getan, als mir das ficken noch wichtiger war als derjenige, mit dem ich fickte und ficken eine schöne art der selbstinszenierung war: wie geil/versaut/verrucht/tabulos/sinnlich bin ich? um sich hinterher dann auf die eigene flanke zu klopfen, um zu sagen: gott, war ich geil.

erschreckend, dass es aber viele leute gibt, die genau das machen. ficken um zu ficken. ficken für die niedere selbstachtung und die unfähigkeit, den anderen zu achten.

c17h19no3

Kind und Buch

»Komm her einmal, du liebes Buch;
Sie sagen immer, du bist so klug.
Mein Vater und Mutter, die wollen gerne,
Daß ich was Gutes von dir lerne;
Drum will ich dich halten an mein Ohr;
Nun sag mir all' deine Sachen vor.

Was ist denn das für ein Eigensinn,
Und siehst du nicht, daß ich eilig bin?
Möchte gern spielen und springen herum,
Und du bleibst immer so stumm und dumm?
Geh, garstiges Buch, du ärgerst mich,
Dort in die Ecke werf' ich dich.«

Wilhelm Hey
Johann Wilhelm Hey (* 26. März 1789 in Leina; † 19. Mai 1854 in Ichtershausen) war ein Pfarrer und Fabeldichter. Berühmt wurde er als Fabeldichter dank seiner im Jahre 1833 anonym erschienenen Fünfzig Fabeln für Kinder und Noch fünfzig Fabeln für Kinder (1837), mit schönen Illustrationen von Otto Speckter.

22.08.2009

Dann Stille.

Möbius Schwester Monika! Gehen Sie!
Schwester Monika bleibt sitzen Ich bleibe.
Möbius Ich will Sie nie mehr sehen.
Schwester Monika Sie haben mich nötig. Sie haben sonst niemand auf der Welt. Keinen Menschen.
Möbius Es ist tödlich, an den König Salomo zu glauben.
Schwester Monika Ich liebe Sie.
[...]
Möbius Schwester Monika. Sie haben mir Ihren Glauben und Ihre Liebe gestanden. Sie zwingen mich, Ihnen nun auch die Wahrheit zu sagen. Ich liebe Sie ebenfalls, Monika.
[..]
Schwester Monika Du bist frei
Möbius Frei?
Schwester Monika Wir dürfen heiraten
Möbius Mein Gott
Schwester Monika Johann Wilhelm! Ich habe den Posten einer Gemeindeschwester in Blumenstein angenommen. Ich habe gespart. Wir brauchen uns nicht zu sorgen. Wir brauchen uns nur liebzuhaben.
[...]
Schwester Monika Du hast Tränen in den Augen.
Möbius Du auch.
Schwester Monika Vor Glück.

Er reißt den Vorhang herunter und über sie. Kurzer Kampf. Die Silhouetten sind nicht mehr sichtbar. Dann Stille. [...]

Newton Was ist geschehen?
Möbius geht in sein Zimmer Ich habe Schwester Monika Stettler erdrosselt.

"Die Physiker" - Dürrenmatt

20.08.2009

Wem gelingt es? - Trübe Frage


Ach! zum Erdenglück geboren,
Hoher Ahnen, großer Kraft,
Leider! früh dir selbst verloren,
Jugendblüte weggerafft.
Scharfer Blick die Welt zu schauen,
Mitsinn jedem Herzensdrang,
Liebesglut der besten Frauen
Und ein eigenster Gesang.

Doch du ranntest unaufhaltsam
Frei ins willenlosse Netz,
So Entzweitest du gewaltsam
Dich mit Sitte, mit Gesetz;
Doch zuletzt das höchste Sinnen
Gab dem reinen Mut Gewicht,
Wolltest Herrliches gewinnen,
Aber es gelang dir nicht.

Wem gelingt es? - Trübe Frage,
Der das Schicksal sich vermummt,
Wenn am unglückseligsten Tage
Blutend alles Volk verstummt.
Dich erfrischet neue Lieder,
Steht nicht länger tief gebeugt;
Denn der Boden zeugt sie wieder,
Wie von je er sie gezeugt.

“Faust - Der Tragödie Zweiter Teil” von Johann Wolfgang Goethe

12.08.2009

des fließenden Blutes

Das wichtigste bei SM-Praktiken ist das gegensitige Vertrauen zwischen beiden Parteien, denn das sollte die Grundbasis für jede Inszenierung, jedes Spiel, jeder Praktik sein. [...]

Unterschiedliche Schlaginstrumente erzeugen unterschiedliche Schmerzqualitäten, sowohl im unmittelbaren Gefühl, als auch im Schmerznachhall und natürlich auch abhängig von der Schlagwucht. Kräftige Schläge mit der Hand lassen die getroffene Stelle langhaltend brennen; Schläge mit einer dünnen Glasfibergerte machen einen schneidenen Schmerz, der erst nach einer Sekunde so richtig deutlich wird; [...]

Der Schmerz eines Schnittes ist im Normalfall weniger groß als ein Hautkratzer mit einem Fingernagel, durch den die Haut gerissen wird. Wenn man mit sehr scharfen Messern so schneidet, daß der andere es kaum spürt, wird eine direkte Rückmeldung fats unmöglich. Doch für die meisten geht es hier nicht so sehr um den Schmerz, sondern mehr um den Kick der Hautverletzung und des fließenden Blutes. Die Wunde kann durch Tätowiertinte, Essig, Rotwein oder Pflanzenasche (keine Zigarettenasche) dauerhaft sichtbar gemacht werden, aber auch das sollte natürlich nur nach genauer vorheriger Absprache passieren. Um ein genaues Gefühl für die Tiefe des Schnittes zu haben, ist Erfahrung nötig. Der Schneidewiderstand der Haut ist von Mensch zu Mensch und je nach Körperpartie unterschiedlich. [..]

Das SM-Handbuch - Matthias T.J.Grimme

14.07.2009

Doch musst du untergehen

"Auch das ist gut, sehr gut", sagte er, "hören Sie einmal den Satz:
Man soll stolz auf den Schmerz sein - jeder Schmerz ist eine Erinnerung unsres hohen Ranges. Fein!
Achtzig Jahre vor Nietzsche! Aber das ist nicht der Spruch, den ich meinte - warten Sie - da habe ich ihn. Also:
Die meisten Menschen wollen nicht eher schwimmen, als bis sie es können.

Ist das nicht witzig? Natürlich wollen sie nicht schwimmen! Sie sind ja für den Boden geboren, nicht fürs Wasser. Und natürlich wollen sie nicht denken; sie sind ja fürs Leben geboren, nicht fürs Denken! Ja, und wer denkt, wer das Denken zur Hauptsache macht, der kann es darin zwar weit bringen, aber er hat doch eben den Boden mit dem Wasser vertauscht, und einmal wird er ersaufen.[...]

"Du hattest ein Bild vom Leben in dir, einen Glauben, eine Forderung, du warst zu Taten, Leiden und Opfern bereit - und dann merktest du allmählich, dass die Welt gar keine Taten und Opfer und dergleichen von dir verlangt, dass das Leben keine heroische Dichtung ist, mit Heldenrollen und dergleichen, sondern eine bürgerliche gute Stube, wo man mit Essen und Trinken, Kaffee und Strickstrumpf, Tarockspiel und Radiomusik vollkommen zufrieden ist. Und wer das andere will und in sich hat, das Heldenhafte und Schöne, die Verehrung der großen Dichter oder die Verehrung der Heiligen, der ist ein Narr und ein Ritter Don Quichotte. Gut. Und mir ist es ebenso gegangen, mein Freund! Ich war ein Mädchen von guten Gaben und dafür bestimmt, nach einem hohen Vorbild zu leben, hohe Forderungen an mich zu stellen, würdige Aufgaben zu erfüllen. Ich konnte ein großes Los auf mich nehmen, die Frau eines Königs sein, die Geliebte eines Revolutionärs, die Schwester eines Genies, die Mutter eines Märtyers. [...] Aber es half nichts.[..]
Glaubst du, ich könne deine Angst vor dem Foxtrott, deinen Widerwillen gegen die Bars und Tanzdielen, dein Sichsträuben gegen Jazzmusik und all den Kram nicht verstehen? Allzu gut verstehe ich sie, und ebenso deinen Abscheu vor der Politik, deine Trauer über das Geschwätz und verantwortungslose Getue der Parteien, der Presse, deine Verzweiflung über den Krieg, über den gewesenen und über die kommenden, über die Art wie man heute denkt, liest, baut, Musik macht, Feste feiert, Bildung betreibt! Recht hast du, Steppenwolf, tausendmal recht und doch musst du untergehen. Du bist für diese einfache, bequeme, mit so wenigem zufriedene Welt von heute viel zu anspruchsvoll und hungrig, sie speit dich aus, du hast für sie eine Dimension zu viel. Wer heute leben und seines Lebens froh werden will, der darf kein Mensch sein wie du und ich. Wer statt Gedudel Musik, statt Vergnügen Freude, statt Geld Seele, statt Betrieb echte Arbeit, statt Spielerei echte Leidenschaft verlangt, für den ist diese hübsche Welt hier keine Heimat ..."
Sie blickte zu Boden und sann.

Der Steppenwolf - Hermann Hesse

04.07.2009

Kopf ab!

Schon schaute sie sich nach einem Fluchtweg um und erwog ihre Aussichten, unbemerkt zu entkommen, als sie auf eine merkwürdie Erscheinung in der Luft aufmerksam wurde. Zuerst konnte sie sich gar keinen Vers darauf machen, doch nachdem sie sie eine Weile beobachtet hatte, wurde darin ein Grinsen sichtbar. »Die Edamer Katze! Nun bekomme ich doch wenigstens Gesellschaft.«
Die Königin lächelte und ging weiter.
»Mit wem sprichst du da eigentlich?« fragte der König, indem er an Alice herantrat und den nur noch sichtbaren Katzekopf mit großer Neugier betrachtete.
»Das ist eine Freundin von mir - eine Edamer Katze« sagte Alice; »erlauben Eure Majestät, daß ich sie Ihnen vorstelle.«
»Sie will mir gar nicht gefallen.« sagte der König; »aber wenn sie will, darf sie mir jedoch die Hand küssen.«
»Nein, danke.« bemerkte der Kater.
»Sei nicht so unverschämt« sagte der König, »und sieh mich nicht so furchtlos an!« Er stellte sich hinter Alice, als er dies sagte.
»Eine Katze braucht den König nicht zu fürchten,« sagte Alice, »das habe ich irgendwo gelesen, aber wo, weiß ich nicht mehr.«
»Nun, jedenfalls muß sie entfernt werden,« sagte der König sehr entschieden, und rief der Königin zu, die gerade vorbeiging: »Meine Liebe! Ich wünschte, du könntest mir diese Katze hier entfernen lassen!«
Die Königin kannte nur eine Art, alle Schwierigkeiten, große und kleine, zu beseitigen. »Kopf ab!« sagte sie, ohne sich einmal umzusehen.
»Ich werde den Henker selbst holen,« sagte der König eifrig und eilte fort.[...]

Als Alice zur Edamer-Kater zurück kam, war sie sehr erstaunt, einen großen Auflauf um ihn versammelt zu sehen: es fand ein großer Wortwechsel statt zwischen dem Henker, dem König und der Königin, welche alle drei zugleich sprachen, während die Übrigen ganz still waren und sehr ängstlich aussahen.
Sobald Alice erschien, wurde sie von allen dreien aufgefordert, den Streit zu schlichten, und sie wiederholten ihr ihre Beweisgründe, obgleich, da alle zugleich sprachen, man kaum verstehen konnte, was jeder Einzelne sagte.
Der Henker behauptete, daß man keinen Kopf abschneiden könne, wo kein Körper sei, von dem man ihn abschneiden könne; daß er so etwas noch nie gethan habe, und ,dass er nicht im Traum daran denke, in seinen Jahren mit dergleichen anzufangen.
Der König behauptete, dass Alles, was einen Kopf habe, geköpft werden könne, und dass man nicht so viel Unsinn schwatzen solle.
Die Königin behauptete, dass wenn nicht in weniger als keiner Frist etwas geschehe, sie die ganze Gesellschaft würde köpfen lassen. (Diese letztere Bemerkung hatte der Versammlung ein so ernstes und ängstliches Aussehen gegeben.)
Alice wußte nichts Besseres zu sagen als: »Die Edamer Katze gehört der Herzogin, es wäre am besten sie zu fragen.«
»Sie ist im Gefängnis,« sagte die Königin zum Henker, »man hole sie her.« Und der Henker lief davon wie ein Pfeil.
Da wurde der Kopf des Katers undeutlicher und undeutlicher; und gerade in dem Augenblick, als der Henker mit der Herzogin zurück kam, verschwand er gänzlich; der König und der Henker liefen ganz wild umher, ihn zu suchen, während die übrige Gesellschaft zum Spiele zurückging.

Alice im Wunderland - Lewis Carroll

28.06.2009

Langeweile?

Die gesellschaftliche Funktion der Fähigkeit, allein zu sein, soll durch ein Bild illustriert werden, das die Kulturgeschichte des Abendlandes nachhaltig geprägt hat: Es ist Melencolica 1 von Albrecht Dürer. Zahllose Gerätschaften liegen, wie achtlos fallengelassen, auf dem Boden. Es sind Werkzeuge der instrumentellen Vernunft, die dazu dienen, eine Welt "more gemometrico" zu bauen, die der menschlichen Kontrolle unterliegt. Zwischen ihnen sitzt die geflügete Figur, ein Baumeister, der sein Bauen unterbrochen hat. [..] Das Bild zeigt die geflügete Figur in einer Entscheidungssituation:

Sie besinnt sich, denkt nach. Nicht außer sich, sondern bei sich. Ohne Depression, aber in einer melancholischen Haltung, aus der sie heraus ihren Ehrgeiz besänftigt: mit ihrem Turm nicht immer höher hinauszuwollen, sondern sich mit einem nicht perfektem Werk und damit auch mit den Grenzen der eigenen Leistungsfähigkeit zu bescheiden. [...]

Für manche mag das wie Langeweile erscheinen: "Wer sich völlig gegen Lageweile verschanzt, verschanzt sich auch gegen sich selbst. Den kräftigsten Lebenstrunk aus dem eigenen innersten Born wird er nie zu trinken bekommen.", schrieb Friedrich Nietzsche. Damit deutete er die positive Funktion der Langeweile an: Sie kann Menschen mit ihren - wenn auch unterschiedlich ausgeprägten - Interessen wieder in Verbindung bringen. So verstanden, ist die Langeweile ein Durchgangsgefühl, eine Inkubationszeit - obwohl sie sich manchmal anfühlt, als würde sie nie vergehen.

Und wie kann eine innere Aktivierung glücken? "Durch Leere" sagt die Psychologin Ulrike Zöllner, die an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Zürich lehrt. "Nichts planen, nichts suchen oder wollen, nichts hoffen oder wünschen, nichts fürchten oder vermeiden - dann kristallisieren sich Interessen und Haltungen heraus. Sie entwickeln sich aus Gednaken, Gefühlen und Fantasien, die nicht forciert werden."

"Psychologie Heute" -  März 2009

26.06.2009

Jetzt ruiniere ich es.

Ich weiß, ich sollte alles erzählen. Rosalies Gang durchs Vorzimmer in jenem Raum, in dem gestorben wird. [...] Ich sollte anschaulich machen , wie Rosalie sich setzt und den Kopf auf die Hände stützt, wie ein Blick zum Fenster ihr zum letzten Mal die Nebelferne des Himmels zeigt, wie ihre Angst der Ermattung weicht, wie sie - hier, bitte, und hier, und dann noch hier, gnädie Frau - Formulare unterschreibt, und wie schließlich das Glas mit Gift vor sie hingestellt wird. Ich sollte erzählen, wie sie es zum Mund führt, [...]
Ja, das hätte eine gute Geschichte werden können, ein wenig sentimental zwar, aber die Melancholie ausbalanciert durch Humor, das Brutale in der Schwebe gehalten mit etwas Philosophie. Ich hatte alles durchdacht. Und Jetzt?

Jetzt ruiniere ich es. Ich [der Autor] reiße den Vorhang weg, werde sichtbar, erscheine vor der Lifttür. [...] Rosalie, du bist gesund. Und wenn wir schon dabei sind, sei auch wieder jung. Fang von vorne an! Bevor sie noch antworten kann, bin ich wieder verschwunden, und sie steht im Lift, der nach unten fährt, und kann nich begreifen, dass ihr aus dem Spiegel eine zwanzigjährige Frau entgegenblickt. Etwas schiefe Zähne, Die haare dünn und der Hals zu schmal, eine Schönheit war sie nie, aber das kann ich ihr nicht auch noch schenken. Andererseits - warum nicht! Jetzt spielt das schon keine Rolle mehr.
Danke
Ach, sage ich erschöpft, nicht zu früh.

[...] Und Rosalie? Sie geht die Straße entlang, mit großen Schritten, halb bewußtlos noch vor Freude, und mir scheint es für einen Moment, als hätte ich richtig gehandelt, als wäre Gnade das Höchste und als käme es auf eine Erzählung weniger nicht an. Und zugleich, ich kann es nicht leugnen, kommt mir die absurde Hoffnung, dass dereinst jemand dasselbe für mich tun wird. Denn wie Roaslie kann auch ich mir nicht vorstellen, dass ich nichts bin ohne die Aufmerksamkeit eines anderen, ja dass meine bloße halbwahre Existenz endet, sobald dieser andere den Blick von mir nimmt - so wie eben jetzt, da ich diese Geschichte endgültig verlasse, Roaslies Dasein erlischt. Von einem Moment zum nächsten. Ohne Todeskampf, Schmerz oder Übergang. Eben noch ein seltsam angezogenes Mädchen, wirr vor Staunen, jetzt nur mehr eine Kräuselung in der Luft, ein noch Sekunden sich haltender Ton, eine verbalssende Erinnerung in meinem Gedächtnis und in Ihrem, während Sie diesen Absatz lesen.

Ruhm: Ein Roman in neun Geschichten - Daniel Kehlmann

15.06.2009

Einsatz

Des einen Leid, des andern Frust,
weder Schneid, noch heilende Brust.
Mir scheint die Welt steckt im Verdruss,
und zu allem Überfluss,
fehlt dem Ganzen gar der Sinn.
Ersetzt ihn so Mancher mit Gewinn.

So nimmt das Übel seinen Lauf,
glückselig nimmst Du's in Kauf.
An dieser Stelle geht's zu Grunde,
im Gewissen steckt wohl die Wunde.
Zu dieser schweren Stunde,
ich bitte dich.
Setzt dem Ganzen ein End'
Noch ist die Moral kniend.
Hab' ein wenig Rücksicht,
nimm dies Gedicht zur Pflicht.

Mach Gebrauch von Deiner Frist,
um es zu vertreiben,
des Menschenkindes Egoist,
damit Gutes soll verbleiben.

von Talen D. aus Frankfurter Bibliothek 2010

13.06.2009

Selbst-bestätigte Intimität

Fremd-bestätigte Intimität hört sich in etwa so an: "Ich vertraue dir etwas an, aber nur, wenn du dich dann auch mir anvertraust. Falls du dazu nicht bereit bist, lasse ich es sein. Ich will aber, daß wir das tun, also mußt du mitmachen. Ich fange an, und dann bist du verpflichtet, dich deinerseits zu öffnen - das ist nur gerecht so. Wenn ich anfange, mußt du mir das Gefühl der Sicherheit geben. Ich muß dir vertrauen können!"

Ganz anders klingt dagegen Selbst-bestätigte Intimität: "Ich kann nicht vorraussetzen, daß du meine Sicht der Dinge teilst. Du bist nicht auf der Welt, um mich zu bestätigen und mir zu sagen, dass ich alles richtig mache. Ich will aber, daß du mich liebst - und das geht nur, wenn du mich wirklich kennst. Ich will nicht, dass du mich ablehnst - aber ich muss das riskieren, wenn ich mich bei dir wirklich angenommen und geborgen fühlen möchte. Es ist an der Zeit, mich dir so zu zeigen, wie ich bin und empfinde und mich der Tatsache zu stellen, dass ich ein von dir getrenntes, sterbliches Wesen bin. Eines Tages werden wir nicht mehr zusammensein und ich wünsche mir, dass du mich dann wirklich gekannt hast."
[...]
Ich sagte zu ihr: "Ich weiß, dass es einen guten Grund dafür gibt, also frage ich Sie danach: Warum sind Sie bereit zum Geschlechtsverkehr mit ihrem Mann, aber nicht bereit, ihn zu küssen?" Sie erwiderte ohne Zögern: "Wenn ich mit ihm schlafe, fällt er mir weniger auf die Nerven. Außerdem habe ich gern Orgasmen." Soviel zum Thema Eheleben und Romantik.

"Die Psychologie sexueller Leidenschaft" von David Schnarch

09.06.2009

guter Kaffee

Holzhütte, draußen in der Wüste. Cheyenne und Claudia im Raum. Cheyenne sitzt am Tisch.

Cheyenne: "Ich glaube du hast nicht begriffen in welcher Lage du bist."
Claudia nimmt den Teesied voll heißem Wasser vom Feuer.

Claudia: "Doch das hab ich sehr gut begriffen. Ich weiß, dass ich Ihnen ausgeliefert bin. Ich kann mich nicht wehren. Und warscheinlich werden ihre Männer in ein paar Minuten über mich herfallen. Na Los! Rufen Sie sie rein! MIR macht das nichts aus. Ich werd schon nicht daran krepieren. Denn wenn's vorbei ist ,nehm ich mir  nen großen Eimer warmes Wasser und alles ist wie's vorher war. Dreckige Erfahrungen im Leben können nicht schaden!" Sie knallt den Teesied auf den Tisch und holt den Kaffee. Cheyenne betrachtet den Teesied.

Cheyenne: "Du kochst bestimmt nen guten Kaffee."

Spiel mir das Lied vom Tod (1968)

19.05.2009

Du bist am Ende – was du bist.



 Faust: Du hörest ja, von Freud’ ist nicht die Rede.
Dem Taumel weih’ ich mich, dem schmerzlichsten Genuss,
Verliebtem Hass, erquickendem Verdruss.
Mein Busen, der vom Wissensdrang geheilt ist,
Soll keinen Schmerzen künftig sich verschließen,
Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist,
Will ich in meinem innern Selbst genießen,
Mit meinem Geist das Höchst’ und Tiefste greifen,
Ihr Wohl und Weh auf meinen Busen häufen,
Und so mein eigen Selbst zu ihrem Selbst erweitern,
Und, wie sie selbst, am End’ auch ich zerscheitern.

Mephistopheles: O glaube mir, der manche tausend Jahre
An dieser harten Speise kaut,
Dass von der Wiege bis zur Bahre
Kein Mensch den alten Sauerteig verdaut!
Glaub’ unser einem, dieses Ganze
Ist nur für einen Gott gemacht!
Er findet sich in einem ew’gen Glanze,
Uns hat er in die Finsternis gebracht,
Und euch taugt einzig Tag und Nacht.

Faust: Allein ich will!

Mephistopheles: Das lässt sich hören!
Doch nur vor einem ist mir bang:
Die Zeit ist kurz, die Kunst ist lang.
[...]

Faust: Was bin ich denn, wenn es nicht möglich ist
Der Menschheit Krone zu erringen,
Nach der sich alle Sinne dringen?

Mephistopheles: Du bist am Ende – was du bist.
Setz’ dir Perücken auf von Millionen Locken,
Setz’ deinen Fuß auf ellenhohe Socken,
Du bleibst doch immer, was du bist.

Faust: Ich fühl’s, vergebens hab’ ich alle Schätze
Des Menschengeists auf mich herbeigerafft,
Und wenn ich mich am Ende niedersetze,
Quillt innerlich doch keine neue Kraft;
Ich bin nicht um ein Haar breit höher,
Bin dem Unendlichen nicht näher.

"Faust - Der Tragödie Erster Teil" von Johann Wolfgang Goethe

14.05.2009

Stellt euch vor

Stellt euch vor, ein Raumschiff landet irgendwo. Die Leute vom Mars (sichtbar oder unsichtbar, das ist eure Entscheidung) verlassen ihr Raumschiff und erleben - irgend etwas. Anschließend schreiben sie ein Protokoll. Dieses Protokoll ist eure Aufgabe. Ob das jetzt ein Bericht aus einem Schwimmbad, von der Autobahn oder von einem ganz anderem Ort ist, liegt an euch.

Kreatives Schreiben VHS Dortmund, 04.03.2009 - Gisela Schalk

Frankreich - zweiter Weltkrieg, nahe Elsars Lohtringen

Stille erfüllt das Land. Weit und breit ist keine Menschenseele zu sehen.Trümmer von Häusern und vereinzelte Kadaver zieren die steinige Berggegend. Der Himmel ist schwarz gekleidet und wird von Kanonengeräuschen erfüllt. Eine kleine Wolkenkette öffnet sich. Ein viereckiger Würfel fällt ambossartig vom Himmel und kugelt den Berg hinunter, dann löst er sich auf. Zwei Wesen erscheinen. Ihre Körper flurosieren im Licht und verformen sich regelmäßig. Sie bestehen aus Atomen und tanzen nebelartig mit der Luft. Gehalten werden sie von einem milchähnlichen Nebel, der ihre leuchtenden Körper umsäumt. Erst scheinen die beiden Körper grün, dann gold und dann gehen sie getrennte Wege. Der erste Nebelkörper entfernt sich vom Donnergeräusch. Es tastet die Umgebung ab. Lernt Felsen kennen, spürt neue Energien. Von der Zusammensetzung des Wassers, unten am Fluss, ist es völlig fasziniert. Die goldschimmernden Atome baden in der Strömung.

Fluss aufwärts reisend, sitzt eine ältere Frau mit ihrem Kind am Fluss. Beide weinen. Das Kind liegt in den Armen der Frau. Weinen und Trauer erfüllt die Umgebung. Der Nebel weicht ab vom Wasser und nähert sich den Beiden. Für den Nebelkörper waren dies völlig neue Energien. Emotionen sind für es völlig unbekannt. Mutter und Kind haben die Augen geschlossen. Der Nebel durchstreift die Frau, fühlt alles mit, lernt alle Atome in ihrem Körper kennen. Ein Ruck geht durch die Atome des Nebels, wie ein Herzschlag.

Ein Herzschlag, der beim anderen Nebelkörper gerade erlischt. Es befindet sich mitten auf dem Schlatfeld und durchsteift gerade den Körper eines SS-Soladten, der von einer Kugel getroffen ist. Die letzten Gedanken widmet er seiner Familie und der Nebel erlebt sie mit. Es flog weiter. Ein Alliierter schießt eine Kugel aus einem Scharfschützengewehr, die ihr Ziel im Kopf eines weiteren SS-Soladten finden sollte. Sie trifft den Nebel. Die Energie der Kugel geht in den Nebel über und dieser breitet sich kurz aus und zieht sich wieder zusammen. Die Kugel fällt zu Boden. Der Scharfschütze merkt nichts. Er hat längst den nächsten Kopf im Visier.

Zu diesem Bild

Der Erzähler gehört selbst nicht zur Geschichte, die er erzählt, sondern ist ihr Urheber und Vermittler. Er ist nicht Teil der dargestellten Welt, sondenr schildert sie von außen, ist der "allwissende Erzähler".
Er kann Zusammenhänge mit zukünftigen oder vergangenen Ereignissen knüpfen, sie kommentieren und Wertungen abgeben. Er kann das Tun verschiedener Charaktere zur gleichen Zeit an verschiedenen Orten schildern. Auch weiß er mehr als die Figuren, kennt deren Gefühls- und Gedankenwelt.
Lassen wir also den allwissenden Erzähler eine Geschichte zum folgenden Bild erzählen:

Kreatives Schreiben VHS Dortmund, 25.03.2009 - Ursula Posse-Kleimann





Dieses Bild stand in Veronicas Vitrine, die unübersehbar im blauen Top darauf zu erkennen war und jeden Morgen nach dem Aufstehen sah sie das Bild an und war den Tränen nahe. Sie war talentiert. Ihre Katze spürte das und strich ihr heilsam um ihr Bein.
"Danke, meine Süße", sagte Veronica, beugte sich hinab und streichelte sie. Der Tag verging und gegen Abend kam Joachim vorbei, ihr Tanzpartner in dem Stück, der Mann an den sie sich lehnt in diesem Bild.
"Wie geht's dir?", fragte er sie auf dem Sofa sitzend.
"Wie soll es mir schon gehen. Ich kann nicht mehr tanzen!"
Sie betrachtete ihr linkes nicht vohandenes Bein. Tränen überkamen sie. Joachim nahm sie in den Arm.
"Hey, ist ja schon gut."
Ein paar Minuten vergingen und Joachim blickte ihr in die Augen.
"Was willst du jetzt machen?"
"Ich werde Sonnenstrahlen schreiben", antwortete sie. Dann griff sie zu einer Blume neben sich und streichelte den Stiel an ihrer Wange mit geschlossenen Augen. Sonnenstrahlen fielen ins Zimmer und verloren sich. Sie träumte ihr eigenes Musical und die Sonnenstrahlen formten menschenähnliche Figuren die tanzten. Joachim sah es.
"Das ist ja unglaublich! Wie machst du das?"
Plötzlich wuchsen Joachim Flügel aus dem Rücken, so wie Veronica es träumte.
"Was tust du. Nein! Nicht!" Joachim schrie vor Schmerz. Als die Flügel aus dem Rücken wuchsen blutete seine ganze Haut. Er musste es stoppen, dachte er. Es waren die höllischten Schmerzen, die er je empfunden hatte. Er nahm ein Kuchenmesser, das auf dem Tisch lag und erstach Veronica. Er stach solange und so oft zu, bis die Flügel verschwanden und die Sonnenstrahlen verblassten. Die Katze lachte schelmisch und leckte Veronicas Blut auf.

09.05.2009

Es muss ein guter da sein

Verehrtes Publikum, jetzt kein Verdruss:
Wir wissen wohl, das ist kein rechter Schluss.
Vorschwebte uns: die goldene Legende.
Unter der Hand nahm sie ein bitteres Ende.
Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen
Den Vorhang zu und alle Fragen offen.
Dabei sind wir doch auf Sie angewiesen
Daß Sie bei uns zu Haus sind und genießen.
Wir können es uns leider nicht verhehlen:
Wir sind bakrott, wenn Sie uns nicht empfehlen!
Vielleicht fiel uns aus lauter Furcht nichts ein
Das kam schon vor. Was könnt die Lösung sein?
Wir könnten keine finden, nicht einmal für Geld.
Soll es ein andrer Mensch sein? Oder eine andre Welt?
Vielleicht nur andere Götter? Oder keine?
Wir sind zerschmettert und nicht nur zum Scheine!
Der einzige Ausweg wär aus diesem Ungemach:
Sie selber dächten auf der Stelle nach
Auf welche Weis dem guten Menschen man
Zu einem guten Ende helfen kann.
Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluss!
Es muss ein guter da sein, muss, muss, muss!



"Der gute Mensch von Sezuan" von Bertolt Brecht

27.04.2009

Briefe an Vera 1 - 23

1

Liebe Vera

Das Licht hier ist so sonderbar. Man erkennt die Menschen, die sich um einen 'rum bewegen, kaum. Es ist nicht zu dunkel, es blendet auch nicht, nur die Schatten liegen irgendwie falsch. Du solltest vorbeikommen und es dir ansehen. Es würde dich sicherlich amüsieren. Du lachst ja so gerne über unverständliche Dinge. Ich lache neuerdings auch wieder, aber nicht zu laut, um die Geier, die ich mir halte, nicht zu erschrecken. Sie schlafen immer, wenn ich nach ihnen schaue und ihnen die verwesenden Tiere - Katzen und Hunde meistens - bringe, die ich während meiner nächtlichen Autofahrten erlege. Kannst du dich noch an diese Fahrten erinnern? Wir waren oft zusammen und betrachteten die Kaninchen, die wie versteinert auf der Straße standen und in unsere Scheinwerfer blickten. Und du wurdest dabei immer ganz feucht. Vor allem, wenn ich sie erwischte.

Mir fehlt dein Lachen

Beckmann


2

Liebe Vera

Es schmerzt mich, an dich zu denken, doch ich denke zur Zeit fast nur noch an dich. Ich versuche, mich mit Erinnerungen wach zu halten, am Leben zu bleiben. Doch es gibt mittlerweile nicht mehr allzuviel, an das ich mich erinnere, ich habe sie alle ausgesaugt - die Erinnerungen. Ich sehne mich nach einer neuen Erfahrung, an die ich mich dann erinnern kann. Ich hoffe, wir treffen uns noch dieses Jahr.

In Sehnsucht

Beckmann


3

Liebe Vera

Nun sind sie aufgebraucht, die Erinnerungen. Du verschwimmst immer mehr zu einem Gespenst, ich weiß nur noch, daß es diese eine Nacht gab. Wo trafen wir uns? Ich glaube, daß es da eine Bautänzerin gab, aber ich möchte es nicht beschwören. Du bist inzwischen fast nur noch ein Name.

Ich möchte deine Hände sehen.

Ich frage mich, wann ich wohl deinen Namen vergessen werde. Weißt du eigentlich noch, wer ich bin?

Manchmal frage ich mich, ob du nicht das Mädchen warst, mit dem ich mich neulich so gut unterhalten habe, und ich habe dich nur nicht erkannt. Oder die, die mir in der Trambahn gegenüber saß. Sie hatte so tiefblaue traurige Augen, daß ich einen Moment daran dachte, ihr das alte Messer in die Brust zu rammen. Ich habe dir - glaub ich - von ihm erzählt - von dem Messer. Es ist ein Erbstück, daß ich von meinem Großvater bekommen habe, und auf der Klinge sind unverständliche Runen eingeritzt. Ich habe nie versucht, sie zu entschlüsseln, vielleicht ist es ja nur ein Kochrezept, aber mit diesem Messer schneide ich mir immer die Narben in den Körper, die du so bewundert hast.

Hast du?

Beckmann


4

Liebe Vera

Langsam kehren Bilder aus unserer Vergangenheit zurück. Als du für mich die Wildsau geschlachtet hast und wir das Blut getrunken haben. Ich habe es dir in den Ausschnitt geschüttet, und unter deinem vormals weißen T-Shirt traten deine Brüste rot hervor. Du hast gelacht. Ich fand es immer so schön, daß du lachtest, wenn ich etwas tat. Das war wie eine Bestätigung.

Dafür geht mir jetzt mein Zeitgefühl verloren. Nach der Tatkräftigkeit meiner Lunge zu schlissen dürfte ich etwa 6o Jahre alt sein, doch ich habe nicht viel Bartwuchs. Ich könnte nicht verbindlich sagen, ob ich volljährig bin, aber ich möchte auch keinen Kinderfahrschein lösen. Ich habe versucht, mich an Zahlen auf meinen Geburtstagstorten zu erinnern, und da war eine fünf - es könnten aber auch zwei gewesen sein.

Wie lange ist es her, daß wir uns zuletzt sahen? Vielleicht kannst du mir diese Frage beantworten. Schreib mir doch mal, ja?

Beckmann


5

Liebe Vera

Ich glaube, ich verlasse dich jetzt. Das klingt vielleicht komisch, da wir ja eigentlich nie zusammen waren. Ich weiß auch nur andeutungsweise, wie du unterhalb deines Kragens aussiehst, ich weiß von dir nur, was du mir geschrieben hast, und, daß wir uns irgendwann einmal gesehen haben. Bist du eigentlich blond?

Beckmann


6

Liebe Vera

Wie ist es dir ergangen, seit wir uns getrennt haben? Ich habe einen alten Brief gefunden, von dir, doch er war unverständlich. Ich konnte den Worten keinen Sinn mehr entnehmen, aber sie über auf mich immer noch eine Magie, eine Faszination aus. Ich würde dich gerne einmal wiedersehen, nur so, um über alte Zeiten zu reden.

Ich bin wieder in das alte Verhaltensmuster zurückgefallen und töte die Mädchen, mit denen ich schlafe meistens - danach. Meine Sammlung ist jetzt einiges größer geworden, willst du sie nicht wieder einmal sehen? Früher fandest du sie immer so toll.

Hast du zur Zeit einen Freund? Ich würde ihn gerne mal kennenlernen. Bring ihn doch mal mit.

Ich vermisse unsere Zeit

Beckmann


7

Liebe Vera

Abends, nachdem ich aufgestanden bin, steige ich immer in die Kanalisation hinab und jage Ratten durch die Rohre, die wie verrückt quieken. Wenn ich eine erwischt habe, beiße ich ihr immer den Kopf ab. Ich esse ihn nicht. Das erinnert mich an dich.

Ich hoffe, es geht dir gut

Beckmann


8

Liebe Vera

Ich denke in letzter Zeit immer seltener an dich, das macht mich traurig, aber wir haben uns so lange nicht mehr gesehen. Ich war auch lange nicht mehr zu hause, suche nach neuem, unerlebtem.

Seit einiger Zeit versuche ich, mich täglich umzubringen. Es hat noch nicht geklappt, aber ich gebe die Hoffnung nicht auf. Vielleicht schaffe ich es ja doch noch, vielleicht ist dies mein letzter Brief an dich. Du sollst aber wissen, daß ich dich immer geliebt habe. Ich wünsche dir noch ein schönes Leben.

Ich vermisse dich

Beckmann


9

Liebe Vera

Ich glaube, ich schaffe es doch nicht.

Bitte komm zurück

Beckmann


10

Liebe Vera

Sie haben mich erwischt, wie ich gerade einem toten Mädchen die Brüste abtrennte. Ich wollte wieder einmal etwas essen. Ich esse wenig.

Jetzt haben sie mich in ein Heim gesteckt, ich bekomme dreimal am Tag Nahrung, einmal warm. Der Kaffee ist schlecht und die Wärter schrecklich unsensibel. Es gibt keine Frauen, das wäre zu gefährlich. Der Typ, der mit mir im Zimmer ist, ein glatzköpfiger ausgemergelter Greis, hat seinen drei Töchtern tote Eulen in die Vagina gesteckt. Das amüsiert mich, ich habe ich gefragt, warum er sie nicht gegessen hat - Eulen und Töchter. Die anderen sprechen nicht viel, und schreiben können die meisten nicht mehr.

Hier versucht jeder, sich umzubringen, darum ist es mir jetzt zu langweilig geworden. Ich habe jetzt eine neue Herausforderung: Überleben. Ich merke, wie mich die Drogen verändern.

Trotzdem habe ich dich nie vergessen

Beckmann


11

Liebe Vera

gestern war ich bei unserem Psychologen. Er ist ein kleiner dicker Mitsechziger mit schrecklich weißer Haut und feuchten Händen. Ständig kaut er auf irgendwas herum. Ich habe ihm das gesagt und er hat mir einen Spielgel vorgehalten. Ich sah ihm sehr ähnlich. Er sagte mir, daß ich im Schlaf von dir gesprochen hätte, und daß ich nur gesund werden kann, wenn ich dich vergesse. Ich habe doch noch nie im Schlaf gesprochen. Ich habe ihm gesagt, daß du der einzige Grund bist, warum ich überhaupt hier raus will. Er meinte, du bist nur Einbildung. Ich wußte gar nicht, daß ich so schöne Phantasien habe.

Das erheitert mich

Dein

Beckmann


12

Liebe Vera

ich weiß, es ist noch nicht lange her, daß ich dir geschrieben habe, doch ich muß dir sagen, daß sie meine Post kontrollieren, denn sie haben mit mir über meinen letzten Brief an dich gesprochen. Ich schreibe dir jetzt also nicht mehr, und versuche, dich zu vergessen, ich möchte hier heraus. Ich werde diese Briefe vermissen.

Ich liebe dich

Beckmann


13

Liebe Vera

Es ist lange her, daß ich geschrieben habe, aber ich weiß nicht, wie lange, dazu müßte ich wissen, wie lange ich in diesem Heim war. Sie haben mich jetzt entlassen und mir gesagt, daß ich jetzt gesund sei. Sie haben mir nie gesagt, was eigentlich meine Krankheit war, und als ich den Arzt das fragte, sagte er nur:

A: War ich krank? Bin ich genesen?

Und wer ist mein Arzt gewesen?

Wie vergaß ich alles das?

B: Erst jetzt weiß ich dich genesen,

Denn gesund ist, wer vergaß.

Er sagte, das sein von Nietzsche, ich sagte, daß sein Scheiße, er lachte und sagte, viel Glück im neuen Leben.

Ich möchte dich jetzt endlich wiedersehen, ich habe so lange gewartet. Leider sind meine Geier inzwischen gestorben, aber wir könnten uns ja unter den Trauerweiden bei dem kleinen See treffen, wo unsere Kinder ertrunken sind. Auch dort war ich lange nicht mehr.

Meine Liebe ist ungebrochen

Dein

Beckmann


14

Liebe Vera

Ich glaube, du hast mich vergessen, ich verstehe das nicht.

Machs gut, vielleicht schaffe ich es auch alleine.

Beckmann


15

Liebe Vera

Ich muß mich wohl daran gewöhnen, von dir keine Antworten mehr zu erhalten, aber ich schreibe dir trotzdem. Es ist nicht leicht, im neuen Leben Fuß zu fassen, und ich brauche diese Aussprachen einfach. Es hilft mir, meine Gedanken zu ordnen und zu verarbeiten, was ich tue. Ich habe mir einen Bungalow am Stadtrand gemietet und halte mir ein Rudel Wölfe in einem Zwinger, der den gesamten Garten einnimmt. Ab und an finde ich ein spielendes Kind und werfe es hinein, und dann setze ich mich an mein Fenster, zünde mir eine Pfeife an und schaue zu. Meistens dauert es nicht lange, denn sonst bekommen sie nichts zu essen. Manchmal zerfleischen sie sich auch gegenseitig - im Kampf um das Futter. Nachts kann ich wegen dem Bellen nicht schlafen. Nachbarn habe ich keine.

Das nächste Kind werde ich dir widmen

Dein

Beckmann


16

Liebe Vera

Neulich kam ein alter Mann vorbei und frage mich, ob ich nachts auch immer den Mond anschaue. Er sagte mir, daß im Mond die Zukunft geschrieben steht und man nur hinaufblicken muß - die ganze Nacht - und man kann sie lesen. Ich erstach ihn und warf ihn in den Zwinger. Die Wölfe rührten ihn nicht an. In der Nach schaute ich dann zum Mond und sah sein Gesicht. Ist das die Zukunft?

Dein

Beckmann

p.s.: Der Alte sah genauso aus wie der, der bei mir im Zimmer war, damals.


17

Liebe Vera

Es ist traurig, aber mein Augenlicht wird immer schlechter. Ich habe erst gestern wieder ein Päckchen Nudelsuppe mit einem Päckchen Reis verwechselt. Die Suppe war ungenießbar, doch ich brauche nicht viel zu essen. Ich muß in den letzten drei Wochen ungefähr 8 Kilo abgenommen haben, doch noch bin ich kräftig genug, um die drei Treppen zu meiner Wohnung hinaufzusteigen. Du kennst doch meine Wohnung? Diese netten drei Zimmer in der Altstadt, deren Fenster auf eine Einkaufsstraße zeigen. Früher saß ich da immer und blickte den jungen Pärchen nach, die zwischen Fast-Food-Lockalen, Schmuckgeschäften und Mode Boutiquen hin und her gingen, die Arme ineinander gehakt, ihr grünen Augen glitzernd von den goldenen Ohrringen in der Auslage, sein ständig besorgter Griff zum Portemonnaie, und seine vom Zigarettenrauch schon leicht gelblichen Zähne, die sie glücklich anlächelten, wenn sie an ihm auf und ab hüpfte, weil sie eine wunderschöne Brosche entdeckt hatte. Mit meinen Zähnen kann schon lange keiner mehr mithalten. Die drei Päckchen Filterlose, die ich am Tag rauche, werden mir von der Tochter des Zigarettenhändlers um die Ecke jeden Tag in die Wohnung gebracht, doch sie läutet nur, die kleine zehnjährige, und gibt sie mir an der Tür. Sie kommt nie herein. Schade.

Du solltest sie dir mal anschauen.

Beckmann


18

Liebe Vera

Meine Augen müssen ein bißchen besser geworden sein, denn ich kann mich ab und zu Morgens im Spiegel erkennen. Das, was ich sehe, erinnert mich immer mehr an den alten Mann, der damals in unserer Straße lebte, als ich noch jung war. Der, der nachts immer mit seiner Flinte rausging, um auf nächtlich herumlungernde Juden zu schießen. Ab und zu traf er auch welche. Er tat das so lange, bis die Juden ihn dann in seiner Wohnung aufhängten.

Sie liesen ihn hängen und niemand vermißte ihn. Nur ich habe jeden Tag zu ihm reingeschaut und beobachtet, wie die Verwesung langsam voranschritt. Ich sehe jetzt ungefähr so aus, wie er, nachdem er drei Wochen lang hing.

Schreib mir, dann schick ich dir ein Photo

Beckmann


19

Liebe Vera

Ich kann zwar nicht mehr viel erkennen, doch ich bin jetzt wieder dazu übergegangen, am Fenster zu sitzen und in die Straße hinunter zu blicken. Wie durch ein Wunder kann ich ausgezeichnet hören, und so lausche ich den Klängen des Lebens: Lachen und Schreien. Ich verhalte mich so wie so den ganzen Tag leise, damit ich höre, wenn eine meiner Mausefallen zuschnappt. Diese Mäuse sind eigentlich das einzige, was ich esse, denn mein Geld geht für Schnaps und Zigaretten drauf. Sie sind wohlgenährt, und so bin ich es auch. Wenn es zuschnappt, denn muß ich immer an allen Plätzen nachschauen, denn ich sehe jetzt wieder so schlechte, daß ich nur fühlen kann, ob eine Maus in der Falle ist. Ich hab mir dabei schon oft die Finger eingezwickt, aber das ist nicht so schlimm.

Komm doch mal vorbei

Beckmann


20

Liebe Vera

Seit gestern beobachte ich Nebelschwaben, die aus meinen Abflüssen in der Toilette und der Küche kriechen. Anfangs habe ich sie nicht beachtet, doch jetzt habe ich Angst, die Fenster zu öffnen, denn es hat sich mittlerweile so viel Nebel angesammelt, daß Passanten wohl die Feuerwehr rufen würden, wenn sie ihn aus meinen Fenstern quillen sehen würden. So viel macht es mir aber auch nicht aus, denn ich sehe ja sowieso nicht so gut, und riechen tut er nicht.

Neulich gab es einen Stromausfall und meine Küchenuhr, die mit den roten Leuchtziffern, die einzige, die ich habe, ist ausgefallen, und ich kann sie nicht mehr stellen, jetzt weiß ich überhaupt nicht mehr, wie spät es ist.

Na ja, was ist schon die Zeit, wenn man auf dich wartet?

Beckmann


21

Liebe Vera

Heute ist mir eingefallen, daß es ja sein könnte, daß du mir geschrieben hast und der Brief schon lange in meinem Briefkasten liegt, also bin ich hinuntergegangen und habe nachgeschaut, doch es war keiner da. Das hat mich traurig gemacht. Weil ich schon mal unten war, bin ich gegenüber in ein Café gegangen. Ich habe eine Espresso getrunken, hab fast vergessen, wie so etwas schmeckt. Bei dem Sonnenlicht konnte ich auch wieder etwas besser sehen. Ich denke, daß ich meine Wohnung jetzt doch einmal durchlüften werde, vielleicht finde ich meine Fallen leichter. Die Bedienung hat mich an mein Bild von dir in meiner Erinnerung erinnert. Eine zarte Frau von unschuldiger Schönheit aber mit einem sündhaften Lächeln. Ich wüßte gerne, wie du wirklich aussiehst, oder zumindest, wie du damals ausgesehen hast.

Ich liebe Dich

Beckmann


22

Liebe Vera

Ich habe mein altes Röhrenradio wieder hervorgeholt und war erfreut, zu bemerken, daß es noch funktioniert. Du kannst dich doch sicherlich noch an diese Geräte erinnern, wenn man sie einschaltet, dann dauert er ersteinmal fünf Minuten, bis sie warm geworden sind, und dann kommt Musik. Ich habe einen Klassiksender gefunden, und auch einen mit moderner Musik, doch meistens stelle ich einen Sender ein, der fast nur Worte bringt. Ich habe ja nicht all zu oft Gelegenheit, Menschen beim Sprechen zuzuhören. Jetzt sitze ich oft Stundenlang vor diesem leicht leuchtenden Apparat und blicke in die Ferne hinter meiner schmutzig-grauen Wohnzimmerwand. Was die Stimmen sagen, verstehe ich nicht, doch es ist angenehm, einfach nur den Klang zu hören. Wenn ich dann zu Bett gehe, meistens graut schon der Morgen, denn schwirren mir Erinnerungen an Worte, die ich einst gekannt habe, im Kopf herum und das im Radio gehörte gewinnt an Bedeutung, doch meist wache ich dann schweißgebadet auf, habe nur kurz geschlafen, vielleicht eine Stunde, und habe sofort alles wieder vergessen. Doch der trocken-ascherne Nachgeschmack auf der Zunge bleibt, und das Wissen, daß es etwas gab, was ich wußte, und das es nicht mehr gibt. Dann setze ich mich wieder vor meine schmutzig-graue Wohnzimmerwand und schalte das Radio ein.

Kannst Du Dich an etwas erinnern?

Beckmann


23

Liebe Vera

Ich merke langsam, daß es mit mir zu Ende geht, ich werde nicht schwächer, doch meine Zeit ist nah, daran besteht kein Zweifel. Ich bin nur froh, daß ich hier auf meinen Tod warten kann, nicht in irgendeiner Anstalt, in der man nicht einmal in Frieden sterben darf. Bitte, liebe Vera, tu mir zum Abschied noch einen Gefallen: Wo auch immer ich begraben werde, geh niemals an mein Grab. Nachdem ich jetzt so lange nichts von dir gehört habe, möchte ich auch nach meinem Tod dich so in Erinnerung behalten, wie du warst, einst, an einem Sommerabend in Rom.

Beckmann

28.03.2009

Dann ging alles so schnell

"Er will nicht atmen! Mein Junge will nicht atmen!", schrie er. Kamals lebloser Körper lag im Schhoß seines Vaters. Seine geöffnete, schlaffe rechte Hand hüpfte im Rhytmus der Schluzer seines Vaters auf und ab. "Mein Junge! Er will nicht atmen! Warum hilft ihm Allah nicht, zu atmen?"
Baba kniete sich neben ihn und legte einen Arm um seine Schulter. Aber Kamals Vater schubste ihn weg, kam auf die Beine und stürzte sich auf Karim, der mit seinem Cousin in der Nähe stand. Dann ging alles so schnell, so überstürtzt, dass man es kaum als Handgemenge bezeichnen konnte. Karim stieß einen überraschten Schrei aus und taumelte zurück. Ich sah einen Arm, der ausholte, ein bein, das trat. Einen Moment später stand Kamals Vater mit Karims Pistole in der Hand da.
"Nicht schießen!", schrie Karim.
"Aber bevor irgendjemand etwas sagen konnte, steckte sich Kamals Vater den Lauf der Waffe in den eigenen Mund. Ich werde niemals das Echo des Schusses vergessen. Und das helle Aufblitzen und das umherspritzende Rot.
Ich krümmte mich und übergab mich am Straßendrand

"Drachenläufer" von Khaled Hosseini

01.03.2009

einfach nur heißen Tee

Als ich aufwachte, weinte sie still vor sich hin. Ihre schmalen Schultern zitterten unter der Decke. Ich zündete den Ofen an und sah auf die Uhr. Zwei Uhr früh. Mitten im Himmel hing ein volkommen weißer Mond.
Ich wartete, bis sie aufgehört hatte zu weinen, kochte Wasser und goss uns eine Tasse Beuteltee auf. Ohne Zucker, ohne Zitrone, ohne Milch, einfach nur heißen Tee. Ich zündete zwei Zigaretten an und gab ihr eine. Sie inhalierte tief und stieß den Rauch aus. Nach drei solchen Zügen musste sie husten.
"Hast du schon mal den Wunsch gehabt, mich umzubringen?", fragte sie.
"Dich?"
"Ja."
"Wieso fragst du?"
Sie rieb sich mit den Fingerspitzen die Augen, die Zigarette noch im Mund.
"Nur so."
"Nein, hab ich nicht.", sagte ich.
"Wirklich nicht?"
"Wirklich nicht. Warum sollte ich dich unbedingt umbringen wollen?"
"Auch wieder wahr", musste sie zugeben. "Ich dachte nur, wäre nicht schlecht, wenn mich jemand umbrächte. Wenn ich grad fest schlafe oder so."
"Ich bin doch nicht der Typ, der Leute umbringt!"
"Nicht?"
"Ich glaube nicht."
Sie lachte, drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus, trank in einem Zug den restlichen Tee und zündete sich eine neue Zigarette an.
"Ich lebe bis fünfundzwanzig", sagte sie. "Dann sterbe ich."

Sie starb im Juli 1978 mit sechsundzwanzig.

"Wilde Schafsjagd" von Haruki Murakami

28.02.2009

Achso

Lieber Gatte,

ich schreibe Dir diesen Brief, um dir mitzuteilen, dass ich Dich jetzt entgültig verlasse. Ich war Dir sieben Jahre lang eine gute Frau und habe nie etwas davon gehabt. Die letzten Wochen waren die Hölle.

Heute hat mich nun Dein Chef angerufen, um mir zu sagen, dass Du heute gekündigt hast - das war der Tropfen, der das Fass zum überlaufen brachte.

Letzte Woche bist Du heimgekommen und hast nicht einmal bemerkt, dass ich beim Friseur und bei der Maniküre war, Dein Lieblingsessen gekocht hatte und sogar ein nagelneues Negligee anhatte. Du bist heimgekommen, hast alles in zwei Minuten herunter geschlungen und bist sofort schlafen gegangen, nachdem Du Dir noch das Spiel angeschaut hast. Du sagst mir nicht mehr, dass Du mich liebst, Du berührst mich nicht mehr, gar nichts tust Du. Entweder gehst Du fremd, oder Du liebst mich nicht mehr, wie auch immer, ich bin jetzt weg.

P.S.: Falls Du mich suchen solltest, lass es besser bleiben. Dein BRUDER und ich ziehen zusammen nach Bielefeld. Schönes Leben noch!

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DIE ANTWORT
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Liebe Exfrau,

Nichts hätte mir mehr den Tag versüßen können, wie dein Brief. Es stimmt, wir sind nun schon seit sieben Jahren verheiratet, obwohl du ja nun wirklich alles andere als eine gute Frau warst. Ich schau' mir so viel Sport im Fernsehen an, um dein ständiges Gemotze auszublenden. Schade, dass es nicht klappt. Ich habe sehr wohl gemerkt, dass du dir letzte Woche alle Haare hast abschneiden lassen; das Erste , was mir in den Sinn kam war: "Du schaust ja aus wie ein Kerl!"

Meine Mutter hat mich dazu erzogen, lieber gar nichts zu sagen, wenn man nichts Schmeichelhaftes sagen kann. Als du "mein" Lieblingsessen gekocht hast, musst du mich wohl mit meinem BRUDER verwechselt haben? Ich esse nämlich seit sieben Jahren kein Schweinefleisch mehr. Ich bin schlafen gegangen, als du das Negligee anhattest, weil das Preisschild noch dranhing. Ich hoffte, das es nur zufall war, dass mein Bruder gerade 50,- Euro von mir geborgt hatte und das Ding 49,99 gekostet hat.

Trotz alledem habe ich dich aber immer noch geliebt und gedacht, dass sich alles zum Guten wenden würde. Als ich herausfand, dass ich 10 Millionen im Lotto gewonnen habe, habe ich gekündigt und uns zwei Tickets nach Jamaika gekauft. Aber als ich zuhause ankam warst du schon weg. Warscheinlich geschieht alles aus einem bestimmten Grund. Ich hoffe für dich, dass du nun das ausgefüllte Leben lebst, das du immer haben wolltest. Mein Anwalt meint, dass du nach dem Brief, den du geschrieben hast, keinen Cent von mir siehst. Schau halt, wo du bleibst.

P.S.: Ich weiß ja nicht, ob du's wusstest, aber mein Bruder Carl war früher eine Carla. Ich hoffe das macht dir nichts aus.

Gezeichnet, Dein Ex
(Schweinereich und frei)

27.02.2009

Don Quijote


"Das ist eben der Punkt", antwortete Don Quijote, "und darin zeigt sich die ausgesuchte Galanterie meines Vorhabens. Daß ein fahrender Ritter mit Grund verrückt wird, darin ist nichts Freiwilliges, dafür gibt's keinen Dank; die rechte Probe ist ohne Anlaß wahnsinnig zu sein, damit die Geliebte denken muß: wenn das am grünen Holze geschieht, was soll's erst am dürren werden! Außerdem habe ich dazu Veranlassung genug in der langen Abwesenheit, die ich mir von meiner ewig mir gebietenden Herrin Dulciena von Toboso auferlegt habe. Hast du ja doch von dem Ambrosio, dem Schäfer von neulich, gehört: wer abwesend ist, erleidet und befürchtet jegliches Übel. Sonach, Freund Sancho, verwende keine Zeit darauf, daß du mir anratest, von einer ausbündigen, so glücklich erdachten, so unerhörten Nachahmung abzustehen. Toll bin ich und toll bleib ich, bis du mit der Antwort auf einen Brief zurückkommst, den ich meiner Herrin Dulciena durch dich zu übersenden gedenke; und wenn sie so ausfällt, wie es meine Treue verdient, dann wird es mit meinem Wahnsinn und meiner Buße zu Ende sein; und wenn sie im entgegengesetzten Sinne ausfällt, dann werde ich im Ernste toll werden und als ein solcher alsdann nichts mehr empfinden. Mithin, auf welche Weise sie auch immer antworten mag, entrinne ich den Seelenkämpfen und Nöten, worin du mich zurücklässt, und ich werde entweder bei Verstande das Glück genießen, das du mir bringst, oder in der Verrücktheit das Unheil nicht empinden, das du mir verkündest."

"Don Quijote von Miguel de Cervantes

24.02.2009

ein melancholisches Genie

Jerry redete und ich hörte zu. Allmählich erfuhr ich immer mehr über sein Leben während er, wie man gefahrlos sagen kann, immer weniger über meines erfuhr. Dank meiner angeborenen Zurückhaltung hatte er mit meiner Persönlichkeit freie Hand. Er konnte aus mir so ziemlich alles machen, was er wollte, und bald wurde mir schmerzlich klar, dass er in mir hauptsächlich ein niedliches Tier sah, närrisch und ein bisschen dumm, so was wie einen sehr kleinen Hund mit vorstehenden Zähnen. Er hatte nicht die leiseste Ahnung von meinem Chrakater, davon, dass ich eigentlich äußerst zynisch war, einigermaßen niederträchtig und ein melancholisches Genie oder dass ich mehr Bücher gelesen hatte als er. Ich liebte Jerry, befürchtete aber, dass seine Liebe nicht mir galt, sonder einem Fantasiegebilde. Mit der Liebe zu Fantasiegebilden kannte ich mich aus. Und in meinem Herzen wusste ich stets, dass er bei unseren gemeinsamen Abenden, wenn er trank und erzählte, in Wirklichkeit Selbstgespräche führte.
Höre ich da ein Glucksen? Sie glauben wohl, Sie hätten mich durchschaut. Ich weiß, ich weiß, was ich weiter vorne gesagt habe - wo ich meine Liebe zu Rissen, mein fast pathologisches Bedürfnis nach Verstecken, meine Vorliebe für Masken eingestand, bezeugte und mit meiner perversen Art sogar damit prahlte. Warum also, fragen Sie, beschwere ich ,ich jetzt, wo mir eine neue Gelegenheit zum Verbergen geboten wird, die goldene Chance schlechthin, mich in den undurchdringlichen Deckmantel des Kuscheltiers zu hüllen?
Tja, ich will es Ihnen verraten: [...]

"Firmin - Ein Rattenleben" von Sam Savage

22.02.2009

Zeit bedeutet nichts

"Das Zimmer war weiß gestrichen und hell erleuchtet von der Morgensonne. Am Fenster saß mit dem Rücken zu mir eine Frau, sie trug eine korallenrote Strickjacke, ihre langen weißen Haare hingen ihr lose über den Rücken. Auf einem Tisch neben ihr stand eine Tasse Tee. Warscheinlich machte ich ein Geräusch oder sie spürte mich hinter sich, jedenfalls drehte sie sich zu mir um und sah mich, und ich sah sie und das warst du, Clare, das warst du als alte Frau, in der Zukunft. Es war wunderschön, Clare, unbeschreiblich schön, so gleichsam aus dem Tod zu kommen und dich zu umarmen und die vielen Jahre deutlich in deinem Gesicht zu sehen. Ich will dir nicht mehr erzählen, damit du es dir vorstellen, damit du es spontan erleben kannst, wenn die Zeit kommt und sie wird kommen, ganz bestimmt. Wir werden uns wiedersehen, Clare. Bis dahin lebe dein Leben, sei in der Welt, die so schön ist.
Nun ist es dunkel und ich bin sehr müde. Ich liebe dich, auf immer und ewig. Zeit bedeutet nichts."

"Die Frau des Zeitreisenden" von Audrey Niffenegger

sterben

Am 11. November 1997 entschied Veronika, jetzt sei es - endlich - an der Zeit, sich das Leben zu nehmen. Sie machte ihr Zimmer sauber, das sie in einem Kloster gemietet hatte, stellte die Heizung ab, putzte die Zähne und legte sich ins Bett.[...]
Veronika hatte fast sechs Monate gebraucht, um sich die Tabletten zu besorgen. Sie hatte schon geglaubt, es nie zu schaffen, schon überlegt, sich die Pulsadern aufzuschneiden.

"Veronika beschließt zu sterben" von Paulo Coelho

Sie protestierte allerdings nicht

"Eleanor also - die damals noch nicht trank, bloß sehr schüchtern und nervös war - hatte gerade das Haus in Lacoste gekauft und sie beschwerte sich bei David, was für eine furchtbare Verschwendung es sei, dass die einfach vom Baum fielen und auf der Terrasse verrotteten. Am nächsten Tag, als wir alle draußen saßen, fing sie wieder davon an. Ich sah, wie Davids Gesicht kalt wurde. Er streckte die Unterlippe vor - das ist immer ein schlechtes Zeichen, halb brutal und halb eingeschnappt - und sagte: Kommt mit. Es kam mir vor, als müssten wir dem Schuldirektor in sein Büro folgen. Er marschierte mit großen Schritten auf den Feigenbaum zu, Eleanor und ich stolperten hinterher. Als wir hinkamen, sah man überall auf den Steinplatten Feigen verteilt. Manche waren schon alt und zerquetscht, andere waren gerade aufgebrochen und Wespen tanzten um die Wunde oder knabberten am klebrigen rotweißen Fruchtfleisch. Es war ein riesengroßer Bau, und es lagen viele Feigen am Boden. Und dann tat David etwas höchst Erstaunliches. Er befahl Eleanor, such auf alle viere niederzulassen und alle Feigen von der Terrasse zu essen."
"Was, vor deinen Augen?", fragte Bridget mit großen Augen.
"Ganz recht. Eleanor sah auch ziemlich verwirrt aus und - verraten ist wohl das richtige Wort. Sie protestierte allerdings nicht, sondern machte sich an ihre unappetitliche Aufgabe. Und David erlaubte ihr nicht eine einzige auszulassen. Einmal sah sie flehentlich zu ihm auf und sagte: Jetzt habe ich genug gegessen, David, aber er stellte ihr den Fuß in den Nacken und antwortete: Schön ausessen. Wir wollen doch nicht, dass etwas verkommt oder?"
"Ab-artig", sagte Bridget.

"Schöne Verhältnisse" von Edward St Aubyn

Seien Sie still!

"Das haben Sie ja fein gemacht", sagte er mit tonloser Stimme. "Er hätte Sie auch verlassen."
"Seien Sie still", sagte sie.
"Natürlich ist es ein Unfall", sagte er. "Das weiß ich"
"Seine Sie still", sagte sie.
"Machen Sie sich kene Sorgen., sagte er. "Es wird ein gewisses Maß an Unannehmlichkeiten geben, aber ich werde ein paar Aufnahmen machen lasse, die beim Verhör nützlich sein werden. Dann haben wir ja auch noch die Zeugenaussagen der Gewehr und des Fahrers. Es passiert Ihnen nicht."
"Seien Sie still", sagte sie.
"Gibt eine verdammte Menge zu erledigen", sagte er.
"Ich muß einen Lastwagen zum See schicken, um nach einem Flugzeug zu funken, das uns drei nach Nairobi bringen kann. Warum haben Sie ihn nicht vergiftet? So macht man's in England."
"Seien Sie still. Seien Sie still. Seien Sie still!", schrie die Frau.
Wilson sah sie mit seinen flachen blauen Augen an.
"Jetzt bin ich fertig", sagte er. "Ich war ein bißchen ärgerlich. Ich fing gerade an, Ihren Mann gern zu haben."
"Ach bitte, seien Sie still.", sagte sie. "Bitte, bitte, seien Sie still."
"So ist's besser", sagte Wilson. "Bitte ist viel besser. Jetzt werde ich still sein."

"Schnee auf dem Kilimandscharo" von Ernest Hemingway

17.02.2009

zeitlose Vaginas


[...] Ich musste einfach nur meine Fingerspitzen aneinanderlegen und an einige Frauen denken, die ich in meinem Leben gekannt hatte - Frauen mit einer Ausstrahlung wie Jeanne Moreau, Monica Vitti und Anouk Aimêe... Frauen, bei denen nicht nur die Gesichter, sondern auch die Geschlechtsteile beseelt waren mit Eigenleben, Charakter, Charme und Witz... Frauen mit Vulkanvaginas - wie die Vagina von Tessa, die enger als die Deadline der Bild-Zeitung war und beim Sex regelmäßig zu reißen drohte. Oder die Vagina von Katrina, die sich an meinen Schwanz festkrallte wie eine Trapperfalle. Oder die von Eleonarra, die so ungewöhnlich gekrümmt, gefurcht und geriffelt war, dass sie wie Lenins Hirn der Nachwelt in einem Ehrentempel zugänglich gemacht hätte werden sollen. Kurz: Diese Frauen hatten surreale, unvergessene, zeitlose Vaginas - Vaginas, die die Pforte waren zu sexuellen Galaxien (hier spiele man bitte die Raumschiff-Enterprise-Titelmelodie ein!), die nie zuvor ein Mensch betreten hatte. Und selbstverständlich prägten diese Vaginas ihre Besitzerinnen. Es waren reife, schöne, mutige Frauen, geistig klar, frei und rebellisch - [...]


Ich redigierte weiter den Text, während Ilona im Internet herumklickte und dem Drucker Seiten entnahm. "Hör dir das mal an!", sagte ich kopfschüttelnd. "Im noblen Golden-Ginko-Bordell gilt der Grundsatz: Wer dreimal spritzt, bekommt sein Geld zurück. Herr im Himmel, dieser Mirko lügt, dass sich die Thunfisch-Makis biegen." Ich makiere die Passage, zögerte einen Moment - und strich sie, schweren Herzens, zugegeben, denn in ihr schwang auch ein verlockender Utopismus mit, den man sonst nur bei Frühsozialisten wie Proudhon oder Fourier fand.

"Der König von Mexico" von Stefan Wimmer

14.02.2009

du und ich

Wenn wir uns öffnen
du dich mir und ich dir mich,
wenn wir versinken
in mich du und ich in dich,
wenn wir vergehen
du mir in und dir in ich

Dann
bin ich ich
und bist du du.

"Der Vorleser" von Berhard Schlink