24.10.2012

Fader noch als Fleisch

Aber als meine Augen auf den Stapel weißer Blätter fielen, wurde ich von seinem Anblick gebannt und ich starrte mit erhobener Feder auf dieses blendende Papier: wie hart und grell es war, wie gegenwärtig. Es war nichts an ihm als Gegenwart. Die Buchstaben, die ich gerade darauf geschrieben hatte, waren noch nicht trocken, und schon gehörten sie mir nicht mehr,
"Man hatte Sorge getragen, die schändlichsten Gerüchte zu verbreiten..."
Diesen Satz hatte ich gedacht, er war zuerst ein Stückchen von mir selbst gewesen. Jetzt hatte er sich auf das Papier geprägt, bildete einen Block gegen mich. Ich erkannte ihn nicht wieder. Ich konnte ihn nicht einmal wiederdenken. Er war da, stand mir gegenüber; umsonst hätte ich in ihm ein Merkmal seiner Herkunft gesucht. Jeder andere hätte ihn schreiben können. Aber ich, ich war nicht sicher, ihn geschrieben zu haben. Die Buchstaben glänzten jetzt nicht mehr, sie waren trocken. Auch das war verschwunden: es war nichts mehr von ihrem Glanz übrig.
Was soll ich jetzt tun?[...]
Vor allem, mich nicht rühren, mich nicht rühren... Ach! Diese Schulterbewegung, ich habe sie nicht unterdrücken können... Das Ding, das wartete, ist aufgeschreckt, es ist über mich hergefallen, es strömt in mich hinein, ich bin davon angefüllt. - Es ist nichts: das Ding bin ich. Die Existenz, befreit, losgelöst, fließt in mich zurück. Ich exisitiere.
Ich sehe meine Hand, die sich auf dem Tisch ausbreitet. Sie lebt - das bin ich. Sie öffnet sich, die Finger spreizen und strecken sich. Sie liegt auf dem Rücken. Sie zeigt mir ihren fetten Bauch. Sie sieht aus wie ein umgefallenes Tier. Die Finger, das sind die Beinchen. Ich vergnüge mich damit sie zu bewegen, sehr schnell, wie die Beinchen einer Krabbe, die auf den Rücken gefallen ist. Die Krabbe ist tot: die Beinchen krümmen sich, ziehen sich auf den Bauch meiner Hand zurück. Ich sehe die Nägel - das einzige Ding an mir, das nicht lebt. Meine Hand kratzt eines ihrer Beinchen mit dem Nagel eines anderen Beinchens; Ich fühle ihr Gewicht auf dem Tisch, der ich nicht bin. Das dauert lange, lange, dieser Eindruck von Gewicht, das vergeht nicht. Es gibt keinen Grund, weshalb das vergehen sollte. Auf Dauer ist es unerträglich... Ich ziehe meine Hand zurück, ich stecke sie in die Tasche. Aber sofort spüre ich, durch den Stoff, die Wärme meines Schenkels. Sofort reiße ich meine Hand aus meiner Tasche; ich lasse sie an der Stuhllehne herunterhängen. Jetzt spüre ich ihr Gewicht am Ende meines Armes. Sie zieht ein bißchen, kaum, schlaff, schlabberig, sie existiert. Ich gebe es auf: wohin ich sie auch tue, sie wird weiter existieren und ich werde weiter fühlen, daß sie existiert; ich kann sie nicht unterdrücken, noch kann ich den Rest meines Körpers unterdrücken, weder die feuchte Wärme, die mein Hemd schmutzig macht, noch dieses ganze warme Fett, das träge kreist, als rühre man es mit dem Löffel um, noch alle diese Empfindungen, die sich darin hin und her bewegen, die kommen und gehen, die von meinen Rippen in meine Achselhöhle aufsteigen oder die von morgens bis abends still in ihrer gewohnten Ecke dahinvegetieren.
Ich springe auf: wenn ich bloß aufhören könnte zu denken, das wäre schon besser. Die Gedanken sind das Fadeste, was es gibt. Fader noch als Fleisch. Das zieht sich endlos in die Länge und hinterläßt einen komischen Geschmack.
Mein Speichel ist süß, mein Körper ist lauwarm; ich fühle mich fade. Mein Taschenmesser liegt auf dem Tisch. Ich klappe es auf. Warum nicht? Das bringt jedenfalls ein wenig Abwechslung. Ich lege meine linke Hand auf den Notizblock und stoße mir das Messer fest in die Handfläche. Die Bewegung war zu nervös: Die Klinge ist abgerutscht, die Wunde ist oberflächlich. Das blutet. Und was nun? Was hat sich geändert?[...]
Es schlägt halb fünf. Ich stehe auf, mein kaltes Hemd klebt an meinem Fleisch. Ich gehe hinaus. Warum? Nun, weil ich auch keinen Grund habe, es nicht zu tun. Auch wenn ich bleibe, auch wenn ich mich still in eine Ecke kauere, werde ich mich nicht vergessen. Ich werde da sein, ich werde auf dem Fußboden lasten. Ich bin.

Der Ekel - Jean-Paul Sartre

15.10.2012

Kommunisten und Schach


Natürlich bin ich wieder hingegangen. Ich habe die Tür aufgestoßen. Nach und nach habe ich die Mitglieder des Clubs kennengelernt. Fast alle waren Leute aus Ländern im Osten. Ungarn, Polen, Rumänien, Ostdeutsche, Jugoslawen, Tschechoslowaken, Russen, pardon, Sowjiets, verbesserten einige. Es gab auch einen Chinesen und einen Griechen. Die große Mehrheit teilte die Leidenschaft für das Schachspiel. Zwei oder drei verabscheuten es, spielten nicht und kamen trotzdem jeden Tag hierher. Sie hatten keinen anderen Ort, wo sie hingehen konnten.[...]
Sie hatten mehrere Dinge gemeinsam. Sie waren unter dramatischen oder phantasischen Umständen aus ihrer Heimat geflohen, häufig waren sie anläßlich einer geschäftlichen oder diplomatischen Reise in den Westen gegangen. Einige waren nie Kommunisten gewesen und hatten ihre Meinung jahrelang verheimlicht. Andere waren Kommunisten der ersten Stunde gewesen, zutiefst überzeugt, für das Wohl der Welt einzutreten, bevor ihnen der Schrecken des Systems bewußt wurde und sie erkannten, daß sie in ihre eigenen Falle getappt waren. Einige waren es noch immer, auch wenn sie von ihrer Partei und der kommunistischen Partei Frankeichs verleugnet und verstoßen worden waren, weil sie als Verräter galten.[...]
Sie hatten die Freiheit gewählt und dafür Frau, Kinder, Familie und Freunde aufgegeben. Deshalb gab es in diesem Club keine Frauen. Sie hatten sie in der Heimalt zurückgelassen. Sie waren Schatten, Parias, mittelos, ihre Diplome wurden nicht anerkannt. Ihre Frauen, ihre Kinder und ihr Land befanden sich in einer Ecke ihres Kopfes und ihres Herzens. Sie blieben ihnen treu.[...] Sie besaßen nichts, sie waren nichts, sie waren am Leben. Wie ein Leitmotiv kehrte es bei ihnen immer wieder: "Wir sind am Leben, und wir sind frei." Wie mir eines Tages Sascha sagte: "Der Unterschied zwischen uns und den anderen ist, daß sie leben und daß wir überlebt haben. Wenn man überlebt hat, hat man nicht das Recht, sich über sein Los zu beklagen, das wäre eine Beleidigung derer, die dageblieben sind." [...]

Ich ließ meine Kickerfreunde sitzen und wurde das jüngste Mitglied des Clubs. Ich freundete mich mit Igor Markish an, einem russischen Arzt, der mir Schachspielen beibrachte. Er hatte in Leningrad einen Sohn meines Alters. Er stellte mich seinem Kumpel Kessel vor, mit dem er russisch sprach. Auf diese Weise habe ich auch Sartre kennengelernt. Was ich von ihm erzählen kann, wiederspricht allen Biographien. Sartre scherzte, war ein Spaßmacher, schummelte beim Schachspiel, indem er Bauern stibitzte und in Lachen ausbrach, wenn Kessel ihn überraschte und sich wundere, wo sein Springer auf f5 abgeblieben war. Er kam nicht oft. Er spürte die Feindschaft mehrerer Clubmitglieder, die ihm seine Sympathie für den Kommunismus vorwafen, aber dennoch sein Geld annahmen. Er schrieb den ganzen Nachmittag auf einen Papierblock, ohne den Kopf zu heben, in seine Arbeit vertieft, seine Zigarette bis zum Filter aufrauchend, und niemand wagte es, ihn zu stören. Wir betrachteten ihn mit gewisser Scheu von ferne und hatten den Eindruck, privilegierte Zeugen eines Schaffensprozess zu sein und selbst die , die ihn nicht mochten, achteten darauf, daß Stille herrschte.
"Macht keinen Lärm. Sartre arbeitet."

Der Club der unverbesserlichen Optimisten - Jean-Michel Guenassia