11.05.2012

seit ich zwölf geworden sei

Der März kündigte den Frühling an, was Peter glücklich machte: Wenn der Wind nachließ, konnte er seine Gold Wing aus dem Keller holen, wo sie seit dem ersten Schnee untergebracht gewesen war. Doch der März erinnerte Peter auch an meinen nur noch einen Monat entfernten vierzehnten Geburtstag. Für Peter war jeder Geburtstag ein kleiner Schritt hin zur Apokalypse unserer Freundschaft. Er beklagte sich sowieso ständig über mein Alter. Er sagte, seit ich zwölf geworden sei und meine Tage habe, hätte meine Scheide einen gewissen Geruch. Er sei nicht schlimm, sagte er, wahrscheinlich würde er die meisten Männer sogar erregen, doch weil er damals von den Stepptänzerinnen missbraucht worden sei, könne er den Geruch der weiblichen Scheide nicht ertragen und wäre deshlab nicht in der Lage, mich zu lecken. Ich wagte nicht, ihn daran zu erinnern, dass ich im Gegensatz zu ihm Dinge einfach ertrug, die ich nicht mochte: beispielweise die Schmerzen und Langeweile, wenn ich ihn befriedigte. Oder wenn ich mir abscheuliche Geschichten über Prosituierte, Straßenkinder und Ähnliches ausdenken musste.[...]




Peter konnte den Anblick meines Schamhaares nicht ertragen. Einmal drehte ich den Spieß um. Ich sagte, wenn er mich wirklich lieben würde, würde er sich die Eier rasieren, was er dann ganz vorsichtig mit seinem Rasierapparat tat. Obwohl er mir seine Liebe tagtäglich in Briefen erklärte, hatte ich irgendwie das Gefühl, ich bräuchte immer neue Beweise dafür.


"Tiger Tiger" - Margaux Fragos

Wohin?




Zwei Dinge hatte Herr Sommer sowohl im Sommer als auch im Winter bei sich und kein Mensch hat ihn je ohne sie gesehen: Das eine war sein Stock und das andere sein Rucksack. Der Stock war kein gewöhnlicher Spazierstock, sondern ein langer, leicht gewellter Nußbaumstekken, der Herrn Sommer bis über die Schulter reichte und ihm als eine Art drittes Bein diente, ohne dessen Hilfe er niemals die enormen Geschwindigkeiten erreicht und die unglaublichen Strecken bewältigt haben würde, die die Leistungen eines normalen Spaziergängers um so vieles übertrafen. Alle drei Schritte schleuderte Herr Sommer seinen Stock mit der Rechten nach vorn, stemmte ihn gegen den Boden und schob sich damit im Vorübergehen mit aller Macht voran, so daß es aussah, als dienten ihm die eigenen Beine bloß noch zum Dahingleiten, während der eigentliche Schub aus der Kraft des rechten Arms herstammte, die mittels des Stockes auf den Boden übertragen wurde - ähnlich wie bei manchen Flußschiffern, die ihre flachen Kähne mit langen Stangen übers Wasser staken. Der Rucksack aber war immer leer, oder fast leer, denn er enthielt, soweit man wußte, nichts anderes als Herrn Sommers Butterbrot und eine zusammengefaltete hüftlange Gummipelerine mit Kapuze, die Herr Sommer anzog, wenn ihn unterwegs ein Regen überraschte.


Wohin aber führten ihn seine Wanderungen? Was war das Ziel der endlosen Märsche? Weshalb und wozu hastete Herr Sommer zwölf, vierzehn, sechszehn Stunden am Tag durch die Gegend? Man wußte es nicht.

"Die Geschichte von Herrn Sommer" - Patrick Süßkind