14.12.2008

Liebst du mich wie eine Tochter oder anders?

"Tatjana, die 13 jährige Mädchenfrau, die große Cellistin, das Täubchen aus Rußland nimmt sich ihr Opfer wann und wie sie will und immer mit einer Mischung aus Unschuld und Raffinement. Dieselbe, die mit den Reizen ihres Körpers, mit ihrer erotischen Austrahlung, als Hexe und Zauberin, die Männer wie Marionetten lachen und weinen, zappeln und zittern läßt. Es ist die selbe Tatjana, die zu lieben imstande ist, voll Innigkeit und Tiefe. Boris Michailowitch ist ein kluger, reifer Mann. Er ist ein angesehener Arzt und ein liebervoller Familienvater. Aber nun ist er gefangen von der Süße dieses Mädchens. Er erfüllt ihr alle Wünsche"

Als ich auf der Straße in meiner Manteltasche nach meinem Autoschlüsseln suchte, fühlte ich einen Zettel. Ich las unter einer Laterne: "Nicht mit Mutti kokettieren. - Tatjana."

Am nächsten Morgen ging ich zeitig an den Strand und stürzte mich in die kühlende Ostsee. Dann legte ich mich vor meinen Strandkorb und ließ mich von der Sonne trocknen. Ich hatte die Augen geschlossen. Ich weiß nicht, wie lange ich gedöst hatte, als ich durch irgendein Gefühl veranlaßt wurde, die Augen zu öffnen. Als ich es tat, blickte ich in Tatjanas mausgraue Pupillen.
Sie lag im rechten Winkel zu mir auf dem Bauch im Sande, und ich weiß nicht, wie lange sie mir schon ins Gesicht guckte. Sie hatte sich auf die Ellbogen gestützt, den Kopf in den Händen. WIr sahen uns eine Weile an, ohne zu sprechen.
"Wo ist Mutti?" sagte ich.
"Im Meer. - Warum?"
"Weil ich mit ihr kokettieren möchte."
Kleine Pause. Dann Tatjana: "Soll ich sie holen?"
"Nein"
Ich senkte meine Augen in Tatjanas Gesicht. Sie duldete es. Ich verfolgte ihre Halslinie hinab zu den Schultern, die durch die schmalen Halter des Badeanzuges unterbrochen wurde. Sie ließ es geschehen, ohne sich zu rühren. Sie hatte das Halskettchen, das eine Madonna trug, durch den Mund gezogen und beobachtete mich stumm. Ihre Stellung erlaubte mir, wieder einen Blick in jenes sanfte Hügelland zu werfen, wo sich einmal Brüstchen erheben sollten.
"Glaubst du nicht", sagte ich, "dass ich erblinden werde, wenn du die wogenden Massen deines Busens nicht besser versteckst?"
Sie lachte. Impulsiv. Mit einem tiefen, kleinen, glucksenden Lachen.
Dann war sie wieder still und sah mich an.
"So wenig wie du denkst, ist es nun auch wieder nicht!"
Und wie um sich zu vergewissern, zog sie das Trikot ein wenig nach vorn und schielte hinunter. Und wirklich standen da zwei spitze Dingerchen, bereit, dir die Augen auszustechen. Sie muß wohl etwas wie Überraschung in meinem Gesicht glesen haben, denn es kam ein kleiner triumphaler Glanz in ihre Augen, als sie sagte:
"Das ist nur, um gewisse Leute zu lehren, daß sie keine vorgefaßten Meinungen haben sollen."
Und sie lief ins Meer. Hoch schlugen die Wellen über ihr zusammen.

Bald kehrte sie zurück und legte sich wieder neben mich auf den Bauch.
"Warum willst du Mutti heiraten?", fragte sie.
"Um dich als Töchterchen zu bekommen."
"Liebst du mich wie ein Töchterchen?"
Ich antwortete nicht. Sie wiederholte die Frage.
"Das geht dich einen Dreck an, verdammte Schlange", sagte ich schließlich. "Außerdem darf ich dich gar nicht anders lieben."
Sie ließ den Sand nachdenklich durch die Finger gleiten.
"Ich frage ja nicht, was du darfst. Ich frage, was du möchtest."
Aber ich verteidigte meine Ehre wie eine alte Jungfer.
"Wer sagt überhaupt, dass ich dich liebe?"
"Du hast es mir gesagt. Es war der erste Satz, den du zu mir gesprochen hast."
"Damals habe ich sicher gemeint: wie ein Töchterchen."
"Und heute?" beharrte sie.
Ich antwortete nicht.
Sie fing an, Hände voll heißen Sandes auf meine Brust zu häufen.
"Du verbrennst mich", sagte ich.
"Ich weiß es", sagte sie. "Liebst du mich wie eine Tochter oder anders?"
Sie war plötzlich ganz blaß geworden
"Anders", sagte ich.
[...]
"Alles muß man mühsam aus dir herausbekommen, Boris Michailowitch", sagte sie.
Und wieder lief sie gegen das Meer, dieses hinein, und tauchte unter den ersten Wellenberg. Dann schwamm sie hinaus.

Ich erhob mich, um sie im Auge zu behalten.
"Sie liebt Sie. Gott sei Ihnen gnädig."
Es war Alexandra, ihre Mutter, die neben mir stand und sich das Gesicht vom Meerwasser trocknete.
"Sie ist dankbar, wollen Sie sagen."
"Sie liebt Sie - und Sie wissen es."
"Wie soll man dazu stellen?" fragte ich.
"Wie stellt man sich zu einem Erdbeben? Wenn Tatjana sich in den Kopf setzt, Sie zu heiraten, werden kein Gott und kein Teufel und nicht einmal Sie etwas dagegen machen können."
"Wie gut, daß ich verheiratet bin und zwei Töchter habe."
"Das sind Hindernisse", sagte Alexandra, ein wenig orakelhaft.
"Aber keine unüberwindlichen, meinen Sie?"
"Sie wissen, dass sie nicht unüberwindlich sind. Es hängt von dem Grad ab, wie weit Tatjana es gelingt, Sie in sich verliebt zu machen."
"Was soll man tun?"
"Fliehen"
[...]

Ihr kleiner Körper sandte dauernd Botschaften zu mir: Ich bin hier... Ich bin hier... Mich liebst du... Mich liebst du, nicht Mutti...
Ich wußte das sowieso...

"Tatjana" von Curt Goetz, Kapitel 14, Rowohlt Verlag
Copyright 1946 by Artemis Verlags AG., Zürich

11.12.2008

Kann ich Ihnen helfen?

Pozzo:(...) Er schaut auf den Stuhl. Ich möchte mich gern wieder hinsetzen, aber ich weiß nicht recht, wie ich es machen soll.

Estragon: Kann ich Ihnen helfen?

Pozzo: Vielleicht, wenn Sie mich darum bitten würden.

Estragon: Worum?

Pozzo: Wenn Sie mich bitten würden, wieder Platz zu nemen.

Estragon: Wäre Ihnen damit gedient?

Pozzo: Ich glaube wohl.

Estragon: Also los. Nehmen Sie doch wieder Platz, mein Herr, ich bitte Sie.

Pozzo: Nein, nein, es ist nicht der Mühe wert. Pause. Leiser. Nicht lockerlassen!

Estragon: Aber ich bitte Sie, bleiben Sie doch nicht stehen, Sie werden sich erkälten.

Pozzo: Glauben Sie?

Estragon: Aber gewiß, ganz gewiß.

Pozzo: Wahrscheinlich haben Sie recht. Er setzt sich. Vielen Dank, mein Lieber. So, ich sitze wieder.

"Warten auf Godot" von Samuel Beckett