14.11.2014

um die Welt lieben zu lernen



Siddhartha fuhr fort: "Ein Gedanke, es mag so sein. Ich muß dir
gestehen, Lieber: ich unterscheide zwischen Gedanken und Worten nicht
sehr. Offen gesagt, halte ich auch von Gedanken nicht viel. Ich
halte von Dingen mehr. Hier auf diesem Fährboot zum Beispiel war ein
Mann mein Vorgänger und Lehrer, ein heiliger Mann, der hat manche
Jahre lang einfach an den Fluß geglaubt, sonst an nichts. Er hatte
gemerkt, daß des Flusses Stimme zu ihm sprach, von ihr lernte er, sie
erzog und lehrte ihn, der Fluß schien ihm ein Gott, viele Jahre lang
wußte er nicht, daß jeder Wind, jede Wolke, jeder Vogel, jeder Käfer
genau so göttlich ist und ebensoviel weiß und lehren kann wie der
verehrte Fluß. Als dieser Heilige aber in die Wälder ging, da wußte
er alles, wußte mehr als du und ich, ohne Lehrer, ohne Bücher, nur
weil er an den Fluß geglaubt hatte."

„Govinda sagte: „Aber ist das, was du ‚Dinge’ nennst, denn etwas Wirkliches, etwas Wesenhaftes? Ist das nicht Trug der Maja, nur Bild und Schein? Dein Stein, dein Baum, dein Fluss – sind sie denn Wirklichkeiten?“ „Auch dies“, sprach Siddharta, „bekümmert mich nicht sehr. Mögen die Dinge Schein sein oder nicht, auch ich bin als dann ja Schein, und so sind sie stets meinesgleichen. Das ist es, was sie mir so lieb und verehrenswert macht: sie sind meinesgleichen. Das ist es, was sie mir so lieb und verehrenswert macht: sie sind meinesgleichen. Darum kann ich sie lieben. Und dies ist nun eine Lehre, über welche du lachen wirst: die Liebe, o Govinda, scheint mir von allem die Hauptsache zu sein. Die Welt zu durchschauen, sie zu erklären, sie zu verachten, mag großer Denker Sache sein. Mir aber liegt einzig daran, die Welt lieben zu können, sie nicht zu verachten, sie und mich nicht zu hassen, sie und mich und alle Wesen mit Liebe und Bewunderung und Ehrfurcht betrachten zu können."

Siddartha - Herman Hesse