14.07.2009

Doch musst du untergehen

"Auch das ist gut, sehr gut", sagte er, "hören Sie einmal den Satz:
Man soll stolz auf den Schmerz sein - jeder Schmerz ist eine Erinnerung unsres hohen Ranges. Fein!
Achtzig Jahre vor Nietzsche! Aber das ist nicht der Spruch, den ich meinte - warten Sie - da habe ich ihn. Also:
Die meisten Menschen wollen nicht eher schwimmen, als bis sie es können.

Ist das nicht witzig? Natürlich wollen sie nicht schwimmen! Sie sind ja für den Boden geboren, nicht fürs Wasser. Und natürlich wollen sie nicht denken; sie sind ja fürs Leben geboren, nicht fürs Denken! Ja, und wer denkt, wer das Denken zur Hauptsache macht, der kann es darin zwar weit bringen, aber er hat doch eben den Boden mit dem Wasser vertauscht, und einmal wird er ersaufen.[...]

"Du hattest ein Bild vom Leben in dir, einen Glauben, eine Forderung, du warst zu Taten, Leiden und Opfern bereit - und dann merktest du allmählich, dass die Welt gar keine Taten und Opfer und dergleichen von dir verlangt, dass das Leben keine heroische Dichtung ist, mit Heldenrollen und dergleichen, sondern eine bürgerliche gute Stube, wo man mit Essen und Trinken, Kaffee und Strickstrumpf, Tarockspiel und Radiomusik vollkommen zufrieden ist. Und wer das andere will und in sich hat, das Heldenhafte und Schöne, die Verehrung der großen Dichter oder die Verehrung der Heiligen, der ist ein Narr und ein Ritter Don Quichotte. Gut. Und mir ist es ebenso gegangen, mein Freund! Ich war ein Mädchen von guten Gaben und dafür bestimmt, nach einem hohen Vorbild zu leben, hohe Forderungen an mich zu stellen, würdige Aufgaben zu erfüllen. Ich konnte ein großes Los auf mich nehmen, die Frau eines Königs sein, die Geliebte eines Revolutionärs, die Schwester eines Genies, die Mutter eines Märtyers. [...] Aber es half nichts.[..]
Glaubst du, ich könne deine Angst vor dem Foxtrott, deinen Widerwillen gegen die Bars und Tanzdielen, dein Sichsträuben gegen Jazzmusik und all den Kram nicht verstehen? Allzu gut verstehe ich sie, und ebenso deinen Abscheu vor der Politik, deine Trauer über das Geschwätz und verantwortungslose Getue der Parteien, der Presse, deine Verzweiflung über den Krieg, über den gewesenen und über die kommenden, über die Art wie man heute denkt, liest, baut, Musik macht, Feste feiert, Bildung betreibt! Recht hast du, Steppenwolf, tausendmal recht und doch musst du untergehen. Du bist für diese einfache, bequeme, mit so wenigem zufriedene Welt von heute viel zu anspruchsvoll und hungrig, sie speit dich aus, du hast für sie eine Dimension zu viel. Wer heute leben und seines Lebens froh werden will, der darf kein Mensch sein wie du und ich. Wer statt Gedudel Musik, statt Vergnügen Freude, statt Geld Seele, statt Betrieb echte Arbeit, statt Spielerei echte Leidenschaft verlangt, für den ist diese hübsche Welt hier keine Heimat ..."
Sie blickte zu Boden und sann.

Der Steppenwolf - Hermann Hesse

04.07.2009

Kopf ab!

Schon schaute sie sich nach einem Fluchtweg um und erwog ihre Aussichten, unbemerkt zu entkommen, als sie auf eine merkwürdie Erscheinung in der Luft aufmerksam wurde. Zuerst konnte sie sich gar keinen Vers darauf machen, doch nachdem sie sie eine Weile beobachtet hatte, wurde darin ein Grinsen sichtbar. »Die Edamer Katze! Nun bekomme ich doch wenigstens Gesellschaft.«
Die Königin lächelte und ging weiter.
»Mit wem sprichst du da eigentlich?« fragte der König, indem er an Alice herantrat und den nur noch sichtbaren Katzekopf mit großer Neugier betrachtete.
»Das ist eine Freundin von mir - eine Edamer Katze« sagte Alice; »erlauben Eure Majestät, daß ich sie Ihnen vorstelle.«
»Sie will mir gar nicht gefallen.« sagte der König; »aber wenn sie will, darf sie mir jedoch die Hand küssen.«
»Nein, danke.« bemerkte der Kater.
»Sei nicht so unverschämt« sagte der König, »und sieh mich nicht so furchtlos an!« Er stellte sich hinter Alice, als er dies sagte.
»Eine Katze braucht den König nicht zu fürchten,« sagte Alice, »das habe ich irgendwo gelesen, aber wo, weiß ich nicht mehr.«
»Nun, jedenfalls muß sie entfernt werden,« sagte der König sehr entschieden, und rief der Königin zu, die gerade vorbeiging: »Meine Liebe! Ich wünschte, du könntest mir diese Katze hier entfernen lassen!«
Die Königin kannte nur eine Art, alle Schwierigkeiten, große und kleine, zu beseitigen. »Kopf ab!« sagte sie, ohne sich einmal umzusehen.
»Ich werde den Henker selbst holen,« sagte der König eifrig und eilte fort.[...]

Als Alice zur Edamer-Kater zurück kam, war sie sehr erstaunt, einen großen Auflauf um ihn versammelt zu sehen: es fand ein großer Wortwechsel statt zwischen dem Henker, dem König und der Königin, welche alle drei zugleich sprachen, während die Übrigen ganz still waren und sehr ängstlich aussahen.
Sobald Alice erschien, wurde sie von allen dreien aufgefordert, den Streit zu schlichten, und sie wiederholten ihr ihre Beweisgründe, obgleich, da alle zugleich sprachen, man kaum verstehen konnte, was jeder Einzelne sagte.
Der Henker behauptete, daß man keinen Kopf abschneiden könne, wo kein Körper sei, von dem man ihn abschneiden könne; daß er so etwas noch nie gethan habe, und ,dass er nicht im Traum daran denke, in seinen Jahren mit dergleichen anzufangen.
Der König behauptete, dass Alles, was einen Kopf habe, geköpft werden könne, und dass man nicht so viel Unsinn schwatzen solle.
Die Königin behauptete, dass wenn nicht in weniger als keiner Frist etwas geschehe, sie die ganze Gesellschaft würde köpfen lassen. (Diese letztere Bemerkung hatte der Versammlung ein so ernstes und ängstliches Aussehen gegeben.)
Alice wußte nichts Besseres zu sagen als: »Die Edamer Katze gehört der Herzogin, es wäre am besten sie zu fragen.«
»Sie ist im Gefängnis,« sagte die Königin zum Henker, »man hole sie her.« Und der Henker lief davon wie ein Pfeil.
Da wurde der Kopf des Katers undeutlicher und undeutlicher; und gerade in dem Augenblick, als der Henker mit der Herzogin zurück kam, verschwand er gänzlich; der König und der Henker liefen ganz wild umher, ihn zu suchen, während die übrige Gesellschaft zum Spiele zurückging.

Alice im Wunderland - Lewis Carroll