25.08.2012

Der Panther

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille -
und hört im Herzen auf zu sein.

Rainer Maria Rilke, 6.11.1902, Paris
Rainer Maria Rilke (* 4. Dezember 1875 in Prag, Österreich-Ungarn; † 29. Dezember 1926 im Sanatorium Valmont bei Montreux, Schweiz) war einer der bedeutendsten Lyriker deutscher Sprache. Daneben verfasste er Erzählungen, einen Roman und Aufsätze zur Kunst und Kultur sowie zahlreiche Übersetzungen von Literatur und Lyrik unter anderem aus der französischen Sprache. Sein umfangreicher Briefwechsel bildet einen wichtigen Bestandteil seines literarischen Schaffens.

20.08.2012

Gevatter Tod

"Jetzt sollst du dein Patengeschenk empfangen. Ich mache dich zu einem berühmten Arzt. Wenn du zu einem Kranken gerufen wirst, so will ich dir jedesmal erscheinen. Steh’ ich zu Häupten des Kranken, so kannst du keck sprechen, du wolltest ihn wieder gesund machen, und gibst du ihm dann von jenem Kraut ein, so wird er genesen. Steh’ ich aber zu Füßen des Kranken, so ist er mein, und du mußt sagen, alle Hilfe sei umsonst. Aber hüte dich, daß du das Kraut nicht gegen meinen Willen gebrauchst, es könnte dir schlimm ergehen.” Es dauerte nicht lange, so war der Jüngling der berühmteste Arzt auf der ganzen Welt. "Er braucht nur den Kranken anzusehen, so weiß er schon, wie es steht, ob er wieder gesund wird oder ob er sterben muß", so hieß es von ihm, und weit und breit kamen die Leute herbei, holten ihn zu den Kranken und gaben ihm so viel Gold, daß er bald ein reicher Mann war. Nun trug es sich zu, daß der König erkrankte. Der Arzt ward berufen und sollte sagen, ob Genesung möglich wäre. Wie er aber zu dem Bette trat, so stand der Tod zu den Füßen des Kranken, und da war für ihn kein Kraut mehr gewachsen. "Wenn ich doch einmal den Tod überlisten könnte", dachte der Arzt, "er wird’s freilich übelnehmen, aber da ich sein Pate bin, so drückt er wohl ein Auge zu, ich will’s wagen." Er faste also den Kranken und legte ihn verkehrt, so daß der Tod zu Haupten desselben zu stehen kam. Dann gab er ihm von dem Kraute ein, und der König erholte sich und ward wieder gesund. [...]

"Es ist aus mit dir, und die Reihe kommt nun an dich", packte ihn mit seiner eiskalten Hand so hart, daß er nicht widerstehen konnte, und führte ihn in eine unterirdische Höhle. Da sah er, wie tausend und tausend Lichter in unübersehbaren Reihen brannten, einige groß, andere halbgroß, andere klein. Jeden Augenblick verloschen einige, und andere brannten
wieder auf, also daß die Flämmchen in beständigem Wechsel zu sein schienen. ,,Siehst du", sprach der Tod, "das sind die Lebenslichter der Menschen. Die großen gehören Kindern, die halbgroßen Eheleuten in ihren besten Jahren, die kleinen gehören Greisen. Doch auch Kinder und junge Leute haben oft nur ein kleines Lichtchen." -
"Zeige mir mein Lebenslicht", sagte der Arzt und meinte, es wäre noch recht groß. Der Tod deutete auf ein kleines Endchen, das eben auszugehen drohte, und sagte: "Siehst du, da ist es." - "Ach, lieber Pate", sagte der erschrockene Arzt, "zündet mir ein neues an, tut mir's zuliebe, damit ich König werde und Gemahl der schönen Königstochter." - ,"Ich kann nicht", antwortete der Tod, "erst muß eins verlöschen, eh' ein neues anbrennt. - "So setzt das alte auf ein neues, das gleich fortbrennt, wenn jenes zu Ende ist", bat der Arzt. Der Tod stellte sich, als ob er seinen Wunsch erfüllen wollte, langte ein frisches, großes Licht herbei, aber weil er sich rächen wollte, versah er's beim Umstecken absichtlich, und das Stöckchen fiel um und verlosch. Alsbald sank der Arzt zu Boden und war nun selbst in die Hand des Todes geraten.

Märchen der Gebrüder Grimm

19.08.2012

Schweineglück

Die nächste Fußwanderung wurde noch gefährlicher, weil dicker Nebel aufkam, jeder Mann mußte den anderen an der Jacke fassen. Auf den eigenen Spuren wollten sie zum Schiff zurückwandern, John Franklin kontrollierte die Richtung mit dem Kompaß. Aber an den Spuren fiel auf, daß sie merkwürdig frisch waren, zudem wurden sie immer zahlreicher. Dem Kompaß und der Zeit nach hätte die Gruppe schon längst wieder beim Schiff sein müssen. Sie hatten sich verirrt und waren im Kreis gelaufen. "Dabei bleiben wir warm, und irgendwo müssen wir ja ankommen!"
"Ich nehme mir Zeit, bevor ich einen Fehler mache", entgegnete Franklin freundlich. Er befahl, daß sich alle so warm wie möglich einpackten und um die Tranlampe setzten. Die Musketen waren für den Fall, daß sich ein Eisbär hier umsah, gut geladen.
John kauerte und überlegte. Was die anderen ihm auch sagten, Vorschläge, Theorien, Fragen - er nickte nur und überlegte weiter. Selbst als Reid zu Back hinüberraunte: "Du hattest recht mit 'Handicap'", schob John alle Fragen, die sich stellen ließen, weit weg. Er brauchte jetzt nur Zeit.
Eine Weile später fragte Reid:"Wollen wir hier einfach nur warten, Sir?" Aber John war immer noch nicht fertig. Mochte auch der Tod bevorstehen, das war kein Freund eine Überlegung vorzeitig zu beenden. Schließlich stand er auf:
"Mr. Back, Sie schießen alle drei Minuten eine Muskete ab, insgesamt drei Stunden lang, danach zu jeder Stunde einmal, zwei Tage lang. Wiederholen Sie!"
"Sind wir dann nicht tot, Sir?"
"Möglich. Aber bis dahin schießen wir. Bitte, die Bestätigung!"
Back wiederholte stotternd. Als niemand mehr mit einer Erklärung rechnete sagte John: "Das ganze Eisfeld dreht sich. Es ist die einzige Lösung. Deshalb gehen wir im Kreis auch wenn wir nach dem Kompß immer in die derselben Richtung marschieren. Bei Wind hätte wir es sofort gemerkt."
Vier Stunden später hörten sie dünn einen Schuß durch den Nebel und dann immer wieder Antworten auf die ihrigen. Eine Stunde danach vernahmen sie rufende Stimmen, schließlich wurden Männer mit Seilen sichtbar und hinter ihnen, kaum hundert Fuß entfernt, das ragende Heck der Trent.
"Sie haben ein Schweineglück, Sir!" bemerkte Back erleichtert und frech, aber von Geringschätzung war nichts zu spüren, im Gegenteil. Reid verzog das Gesicht. Zu ihm sagte Back: "Wenn wir auf dich gehört hätten, wären wir jetzt sonstwo und war als Eiszapfen!" Reid schwieg. Er gab sich plötzlich einen Ruck und trat heftig nach einer Schneeflocke. John wunderte sich. Wie konnte man nach einer Schneeflocke teten? War da noch etwas anderes?

Die Entdeckung der Langsamkeit - Sten Nadolny