31.12.2009

Unzucht


Das erste, was ich wahrnehme, ist Tanjas abgestandener Atem. Ihr Mund steht offen, zwischen ihren Zahnreihen klebt ein Speichelfaden.
Ich stelle zu meiner Überraschung fest, dass es noch hell ist, die genaue Uhrzeit kann ich allerdings nicht ermitteln. Mein Kiefer schmerzt, als ob ich stundenlang auf Metall gebissen hätte; meine Kehle ist staubtrocken; mein Magen leer und wund; über allem liegt ein dumpes Schuldgefühl.
Eigentlich hatte ich bis morgen bleiben wollen, aber das ist gänzlich undenkbar geworden. Ich muss hier so schnell wie möglich weg. Noch ist der Abturn erst im anrollen, leckt mit seinen grauen Zungen gerade mal an den Rändern meiner Selbstschutzanlagen. Aber wenn die Hauptlast über mir zusammenschlägt, will ich zwischen meinen Leib und dieses Zimmer den größtmöglichen Abstand gebracht haben.
Vorsichtig schlage ich die Decke zurück, stemme mich in die Höhe und beginne meine Sachen zusammenzusammeln.
Ich würde mich am liebsten im Badezimmer oder in der Küche anziehen, möchte aber Petra nicht begegnen. Und so wähle ich stattdessen die Ecke des Zimmers, die zum Futon die größte Entfernung aufweist.
Tanja wird trotzdem wach. Ich bin gerade dabei, mir die Schuhe zuzubinden, als sie die Augen aufschlägt.
"Willst du weg?"
"Ich muss"

"Unzucht" - Jan Off

20.12.2009

Hamlet

König (im Schauspiel).
Ich glaub, Ihr denket jetzt, was Ihr gesprochen,
Doch ein Entschluss wird oft von uns gebrochen.
Der Vorsatz ist ja der Erinnerung Knecht,
Stark von Geburt, doch bald durch Zeit geschwächt.
Wie herbe Früchte fest am Baume hangen,
Doch leicht sich lösen, wenn sie Reif' erlangen.
Notwendig ist's, dass jeder leicht vergisst
Zu zahlen, was er selbst sich schuldig ist.
Wo Leidenschaft den Vorsatz hingewendet,
Entgeht das Ziel uns, wann sie selber endet.
Der Ungestüm sowohl von Freud' als Leid
Zerstört mit sich die eigne Wirksamkeit.
Laut klagt das Leid, wo laut die Freude schwärmet,
Leid freut sich leicht, wenn Freude leicht sich härmet.
Die Welt vergeht: es ist nicht wunderbar,
Dass mit dem Glück selbst Liebe wandelbar.
Denn eine Frag ' ist's, die zu lösen bliebe,
Ob Lieb' das Glück führt oder Glück die Liebe.
Der Große stürzt: seht seinen Günstling fliehn.
Der Arme steigt und Feinde lieben ihn.
So weit scheint Liebe nach dem Glück zu wählen.
Wer ihn nicht braucht, dem wird ein Freund nicht fehlen,
Und wer in Not versucht den falschen Freund,
Verwandelt ihn sogleich in einen Feind.
Doch um zu enden, wo ich ausgegangen,
Will und Geschick sind stets in Streit befangen.
Was wir ersinnen, ist des Zufalls Spiel,
Nur der Gedank ist unser, nicht sein Ziel.
So denk, dich soll kein zweiter Gatt erwerben.
Doch mag dies Denken mit dem ersten sterben.

"Hamlet" - William Shakespeare

18.12.2009

die Schneeweiße Witwe

Das Furchterregendste an der Schneeweißen Witwe war nicht, was man von ihr sah - sondern das, was man nicht sah. Sie war umgeben von einem Schleier aus schneeweißen Haaren, der ihren Körper vollständig verhüllte. Sie sah aus wie eine kunstvolle Perücke aus langen seidigen Strähnen, als habe sich der Kopf einer Enthaupteten auf seine Haarspitzen gestellt und erhoben, um ihren Henker mit einer schrecklichen Ballettvorstellung zu Tode zu ängstigen. Es schien, als bewege sich die Schneeweiße Witwe unter Wasser oder in der Atmospähre eines fremden Planeten, auf dem andere Naturgesetze herrschten. Hier und da hatte sich einzelne Strähnen aus dem Haar gelöst und wehten hin und her, auf und ab, unwillkürlich träge, als ob sie in einer anderen Zeit existierten.«

»Ja, sie ist wirklich gefährlich«, wisperte Eißpin ergriffen. Er hantierte vorsichtig an den Ventilen, bis das Säuseln verstummte. »Ihr Gift ist zehntausend mal wirkungsvoller als das des giftigsten Skoprions. Sie springt auf kurze Entfernungen schneller als der Blitz. Sie singt im Dunkeln, und wenn du diesen Gesang einmal gehört hast, kannst du ihn niemals wieder vergessen. Nie wieder.«

[...]

Eißpin war jetzt ganz nahe an den Käfig herangetreten. »Wenn sie dich sticht« ,sagte er »oder besser, dich binnen einer Sekunde hundertfach perforiert mit ihren Haarspitzen, dann bist du rettungslos des Todes. Es gibt kein Gegengift, weil sie die Zusammensetzung ihres Giftes täglich verändert. Und was dieses Gift mit deinem Körper anstellt, das ist beispiellos in der Welt der toxischen Substanzen. Der Tod durch die Schneeweiße Witwe ist der schönste und der schrecklichste zugleich, größte Qual und höchstes Entzücken. Der Körper schüttet Unmengen von Glückshormonen aus, um der Qual etwas entgegenzusetzen, und das versetzt dich in eine Agonie des Glücks, in eine Ekstase des Schmerzes, die keinem Lebewesen zu wünschen ist. Deine Haare werden dabei so schlohweiß, wie die ihren. Und dann, wenn dein Herz sich endlich vor Pein zerrissen hat, zerfällt dein Körper zu weißem Puder.«

»Man sagt, die Schneeweiße Witwe komme von dem Planeten, auf dem der Tod selbst wohnt« ,flüstete Eißpin. »Und dass der Tod sie erschaffen habe, um zu erfahren, wie es ist, sich vor etwas zu fürchten. Das ist natürlich Unfug! Der Tod wohnt in uns allen und sonst nirgends. Aber eines ist unbestritten: Sie ist die Königin der Furcht.

"Der Schrecksenmeister" - Walter Moers