20.05.2013

An das Liebste

Ob ich wohl lebte hundert Jahr',
so langt die Zeit doch nicht,
Zu sagen, was in meiner Brust
von Dir die Liebe spricht.

Ob ich wohl lebte tausend Jahr',
flieht doch die Zeit dahin,
Eh' Du es weißt, wie fest und wahr
und wie getreu ich bin!

Und lebt ich Millionen Jahr,
ich nennte nicht das Weh,
Das immerfort mein Herz zerreißt,
wenn ich Dich nicht mehr seh.

Doch jetzt noch bist Du nahe mir,
zu künden Dir dies Glück,
Brauch ich nicht eine kleine Zeit, -
nur einen einzigen Blick.

Karoline Leonhardt

06.05.2013

Eine Stadt im Krieg

Im Juli 2012 kam der Krieg nach Aleppo und die Stadt im Norden Syriens wurde zum Schlachtfeld. Von der Euphorie, die den Aufstand gegen das Regime von Präsident al-Assad anfangs kennzeichnete, ist nicht mehr viel zu spüren. Die Menschen versuchen, irgendwie zu überleben. Der Journalist Carsten Stormer hat Aleppo in den vergangenen Monaten mehrmals besucht.

Ibrahim stand im Flur, als die Rakete das Wohnzimmer traf, in dem seine Eltern vor dem Fernseher saßen. Die Explosion schleuderte ihn gegen die Wand, doch er blieb unverletzt. Er steht im fünften Stock des brennenden Hauses, Rauch quillt durch das Treppenhaus, Freunde und Nachbarn hetzen die Treppen hinauf und hinunter, in den Händen Eimer und Behälter gefüllt mit Wasser, in dem vergeblichen Versuch, die Flammen zu löschen. Nebenan im Wohnzimmer verbrennen Ibrahims Vater und Mutter, der Geruch von verbranntem Fleisch hängt in der Wohnung. Ein junger Mann übergibt sich im Treppenhaus. "War mein Vater ein Terrorist? War meine Mutter eine Terroristin?", ruft Ibrahim und beginnt zu weinen. "Baschar al-Assad hat meine Eltern getötet! Wofür? Wofür!" Dann lehnt er sich an die verrußte Wand, schlägt die Hände vors Gesicht und rutscht langsam in die Hocke. Freunde knien neben ihm, um zu trösten, nehmen ihn in den Arm, schwören Rache.
Nach einer Stunde ist das Feuer so weit unter Kontrolle, dass ein paar Männer über die Reste des Balkonsimses in das Wohnzimmer klettern können. Sie ziehen einen verkohlten Körper unter einem Tisch hervor, wickeln ihn in eine Plüschdecke und rufen: "Allahu Akbar, Allahu Akbar!" Gott ist groß. Rauch quillt aus dem kokelnden Leichnam unter der Decke hervor. Ibrahim soll die Körper identifizieren, aber sie sind so entstellt, dass er nicht sagen kann, wer Mutter, wer Vater ist. "Baba? Mama?", flüstert er fassungslos.
Für einen würdevollen Abschied von den Toten bleibt in diesem Krieg kaum Zeit. Die verbrannten Leichen von Ibrahims Eltern liegen keine zwei Stunden nach dem Angriff auf der Ladefläche eines weißen Kleinlasters, der hupend durch die Straßen Aleppos rast. Auf dem Märtyrer-Friedhof, am Stadtrand von Aleppo, bereiten Totengräber in Schichtarbeit die Gräber zukünftiger Toter vor.
Es muss schnell gehen, zu oft schon wurden Beerdigungen mit Granaten beschossen. In der Ferne fliegen Hubschrauber und Kampfflugzeuge über Aleppo, schwarze Rauchsäulen steigen in den Himmel, als man Ibrahims Eltern in einem Grab aus Baustoffziegeln ablegt. Ein Verwandter spricht ein kurzes Gebet. "Ich habe die Hoffnung aufgegeben, dass uns jemand zu Hilfe kommt. Amerika, Europa, die Türkei, die Arabische Liga, die sehen alle zu und tun nichts", sagt Ibrahim, als er sich von seinen Eltern verabschiedet hat. Dann fährt er zurück nach Aleppo, zu den Bomben und Scharfschützen. Eine Stadt wie er selbst: obdachlos und Vollwaise.

Eine Stadt im Krieg  - blog
Amnesty Journal April 2013 - zeitschrift