12.12.2014

,Es' hat geschossen

Fragt man von hier aus, wie japanische Bogenmeister diese Auseinandersetzung des Schützen mit sich selbst sehen und schildern, so muß ihre Antwort vollends rätselhaft klingen. Denn die Auseinandersetzung besteht für sie darin, daß derSchütze auf sich selbst - und wiederum nicht auf sich selbst - zielt, daß er dabei vielleicht sich selbst - und wiederum nicht sich selbst - trifft und somit in einem Zielender und Ziel, Treffender und Getroffener ist. Oder, um mich einiger Ausdrücke zu bedienen, die Bogenmeistern ans Herz gewachsen sind: es kommt darauf an, daß der Schütze trotz all seinem Tun unbewegte Mitte wird. Dann stellt das Größte und Letzte sich ein: die Kunst wird kunstlos, das Schießen wird zu einem Nichtschießen, zu einem Schießen ohne Bogen und Pfeil; der Lehrer wird wieder zum Schüler, der Meister zum Anfänger, das Ende zum Beginn und der Beginn zur Vollendung.

Ich fragte daher: „Ist es nicht wenigstens denkbar, daß Sie, nach jahrzehntelangem Üben, unwillkürlich und mit geradezu nachtwandlerischer Sicherheit Bogen und Pfeil beim Spannen so in Anschlag bringen, daß Sie, ohne bewußtes Zielen, die Scheibe treffen, ja einfach treffen müssen?" Der Meister, an mein lästiges Fragen längst gewöhnt, schüttelte den Kopf. „Ich will gar nicht in Abrede stellen", sagte er nach einer Weile besinnlichen Schweigens, „daß an dem, was Sie da sagen, etwas sein könnte. Stelle ich mich doch dem Ziel gegenüber', so daß ich es erblicken muß, auch wenn ich mich nicht mit Absicht nach ihm richte. Aber andererseits weiß ich, daß dieses Erblicken nicht genügt, nicht entscheidet, nichtserklärt, denn ich sehe das Ziel, als sähe ich es nicht."

„Dann müßten Sie es auch mit verbundenen Augen treffen", entfuhr es mir. Der Meister sah mich mit einem Blick an, der mich befürchten ließ, als habe ich ihn verletzt, und sagte dann, „Kommen Sie heute abend!" Ich nahm ihm gegenüber auf einem Kissen Platz. Er reichte mir Tee, sprach aber kein Wort. So saßen wir eine lange Weile da. Nichts war zu hören als das singende Brodeln des kochenden Wassers über glühenden Kohlen. Endlich erhob sich der Meister und gab mir einen Wink, ihm zu folgen. Die Übungshalle war hell erleuchtet. Der Meister hieß mich eine Moskitokerze, lang und dünn wie eine Stricknadel, vor der Scheibe in den Sand zu stecken, das Licht im Scheibenstand jedoch nicht anzuknipsen. Es war so dunkel, daß ich nicht einmal dessen Umrisse wahrnehmen konnte, und wenn nicht das winzige Fünklein der Moskitokerze sich verraten hätte, hätte ich die Stelle, an welcher die Scheibe stand, vielleicht geahnt, aber nicht genau auszumachen vermocht. Der Meister „tanzte" die Zeremonie. Sein erster Pfeil schoß aus strahlender Helle in tiefe Nacht. Am Aufschlag erkannte ich, daß er die Scheibe getroffen habe. Auch der zweite Pfeil traf. Als ich am Scheibenstand Licht gemacht hatte, entdeckte ich zu meiner Bestürzung, daß der erste Pfeil mitten im Schwarzen saß, während der zweite die Kerbe des ersten Pfeiles zersplittert und den Schaft ein Stück weit aufgeschlitzt hatte, bevor er sichneben ihm ins Schwarze bohrte. Ich wagte nicht, die Pfeile einzeln herauszuziehen, sondern brachte sie mitsamt der Scheibe zurück. Der Meister schaute sie prüfend an. „Der erste Schuß", sagte er dann, „sei kein Kunststück gewesen, werden Sie meinen, ich sei doch mit meinem Scheibenstand seit Jahrzehnten so vertraut, daß ich sogar bei tiefstem Dunkel wissen müsse, wo sich die Scheibe befindet. Das mag sein, und ich will mich nicht auszureden versuchen. Aber der zweite Pfeil, der den ersten traf - was halten Sie davon? Ich jedenfalls weiß, daß nicht ,ich' es war, dem dieser Schuß angerechnet werden darf. ,Es' hat geschossen und hat getroffen. 

"Zen in der Kunst des Bogenschießen" - Eugen Herrigel