28.12.2012

die erste dieser Welt

"Sein Lebenstraum war, Religion und Wissenschaft zu vereinen", sagte sie. "Er hoffte beweisen zu können, dass Religion und Wissenschaft zwei durchaus miteinander vereinbare Dinge seien - zwei verschiedene Wege zu ein und derselben Wahrheit." Sie zögerte, als glaubte sie slebst nicht an das, was als Nächstes kam. "Und vor kurzem... Fand er einen Weg dorthin." Kohler schwieg.
"Er entwickelte ein Experiment, von dem er hoffte, das es einen der erbittersten Konflikte in der Geschichte von Wissenschaft und Religon beenden könnte."
Langdon fragte sich, welchen Konflikt sie meinte. Es gab zu viele.
"Die Schöpfung.", erklärte Vittoria. "Der Streit darüber, wie das Universum entstanden ist."
Oh, dachte Langdon. Dieser Streit.[...]
"Herr Direktor, die Wissenschaft behauptet das Gleiche wie die Religion, dass der Urknall alles im Universum zusammen mit seinem Gegensatz schuf."
"Einschließlich der Materie selbst", flüsterte Kohler wie zu sich selbst.
Vittoria nickte. "Einschließlich der Materie selbst. Und als mein Vater sein Experiment durch führte, entstanden zwei Formen von Materie."
"Langdon fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Leonardo Vetra hat den Gegensatz zvon Materie erschaffen?
Kohler starrte sie ärgerlich an. "Die Substanz, auf die Sie hier anspielen, existiert irgendwo im Universum, aber ganz gewiss nicht hier! Sehr wahrscheinlich nicht einmal in unserer Milchstraße."
"Ganz genau.", erwiderte Vittoria. "Und das ist der Beweis dafür, dass die Partikel in diesen Behältern erschffen worden sein müssen!"
Kohlers Miene wurde hart. "Vittoria, Sie wollen doch wohl nicht behaupten, dass sich in diesen Behältern Proben davon befinden?"
"Genau das." Vittoria betrachtete stolz die Behälter. "Herr Direktor, vor sich sehen Sie die erste Antimaterie dieser Welt."

Illuminati - Dan Brown

19.12.2012

an alle die anders denken

Das Marmeladenglas

Ein Philosophie-Professor stand vor seinem Kurs und hatte ein kleines Experiment vor sich aufgebaut: Ein sehr großes Marmeladenglas und drei geschlossene Kisten. Als der Unterricht begann, öffnete er die erste Kiste und holte daraus Golfbälle hervor, die er in das Marmeladenglas füllte. Er fragte die Studenten, ob das Glas voll sei. Sie bejahten es.
Als nächstes öffnete der Professor die zweite Kiste. Sie enthielt M&Ms. Diese schüttete er zu den Golfbällen in den Topf. Er bewegte den Topf sachte und die M&Ms rollten in die Leerräume zwischen den Golfbällen. Dann fragte er die Studenten wiederum, ob der Topf nun voll sei. Sie stimmten zu.
Daraufhin öffnete der Professor die dritte Kiste. Sie enthielt Sand. Diesen schüttete er ebenfalls in den Topf zu dem Golfball-M&M-Gemisch. Logischerweise füllte der Sand die verbliebenen Zwischenräume aus. Er fragte nun ein drittes Mal, ob der Topf nun voll sei. Die Studenten antworteten einstimmig ja.
Der Professor holte zwei Dosen Bier unter dem Tisch hervor, öffnete diese und schüttete den ganzen Inhalt in den Topf und füllte somit den letzten Raum zwischen den Sandkörnern aus. Die Studenten lachten.
Nun, sagte der Professor, als das Lachen nachließ, ich möchte, dass Sie dieses Marmeladenglas als Ihr Leben ansehen.
Die Golfbälle sind die wichtigen Dinge in Ihrem Leben: Ihre Familie, Ihre Kinder, Ihre Gesundheit, Ihre Freunde, die bevorzugten, ja leidenschaftlichen Aspekte Ihres Lebens, welche, falls in Ihrem Leben alles verloren ginge und nur noch diese verbleiben würden, Ihr Leben trotzdem noch erfüllen würden.

Er fuhr fort: Die M&Ms symbolisieren die anderen Dinge im Leben wie Ihre Arbeit, ihr Haus, Ihr Auto. Der Sand ist alles Andere, die Kleinigkeiten.
Falls Sie den Sand zuerst in das Glas geben, schloss der Professor, hat es weder Platz für die M&Ms noch für die Golfbälle. Dasselbe gilt für Ihr Leben. Wenn Sie all Ihre Zeit und Energie in Kleinigkeiten investieren, werden Sie nie Platz haben für die wichtigen Dinge. Achten Sie zuerst auf die Golfbälle, die Dinge, die wirklich wichtig sind. Setzen Sie Ihre Prioritäten. Der Rest ist nur Sand.
Einer der Studenten erhob die Hand und wollte wissen, was denn das Bier repräsentieren soll.
Der Professor schmunzelte: Ich bin froh, dass Sie das fragen. Das zeigt Ihnen, egal wie schwierig Ihr Leben auch sein mag, es ist immer noch Platz für ein oder zwei Bier.

Autor unbekannt aus http://www.hanzelhoff.com/blog/?p=6583

14.12.2012

Weltenwanderer

Was sollte es nützen, wenn ich alleine um die Welt wanderte? Würde es mir als Einzelnem überhaupt gelingen, eine Veränderung herbeizuführen? Diese Zweifel kamen mir immer wieder in den Sinn.
Als ich mit meinem Onkel Christoph durch das Salzkammergut wanderte, fragte ich ihn um seinen Rat. Wir spazierten gerade an einem versteckten Gebirgssee vorbei, da hob er, ohne viel zu sagen, einen Stein auf und warf ihn in den See. "Was siehst du?", wollte er wissen. "Einen Stein, der ins Wasser fällt und Wellen schlägt.", gab ich zur Antwort. "Genau das ist es. Der Stein fällt ins Wasser und verbreitet Wellen. Sie strömen vom Zentrum aus und erreichen schließlich den ganzen See bis zum Rand. Weiter von dort entfernt, wo der Stein ins Wasser gefallen ist, sind die Wellen nicht mehr so stark, aber du siehst und spürst sie immer noch. Genauso wird es mit deiner Wanderung und Umweltkampagne sein. Du wirst gehen und alleine deswegen setzt du ein Zeichen, das bis in den letzten Winkel der Welt strömt. Mach dir als nie Sorgen, dass dein Handeln keinen Sinn hätte, es hat viel mehr Bedeutung, als dir im Augenblick bewusst sein mag."

"Der Weltenwanderer" - Gregor Sieböck

02.12.2012

Anti-Held


Selbst heute noch, nach so vielen Jahren, kommt mir dies alles irgendwie übel vor. Manches kommt mir jetzt übel vor, aber... sollte ich nicht hier meine "Aufzeichnungen" abbrechen? Ich glaube, es war ein Fehler, daß ich sie überhaupt begonnen habe. Wenigstens habe ich mich während des Schreibens dieser Novelle die ganze Zeit geschämt: also ist es nicht mehr Literatur, sondern Korrektionsstrafe. Denn lange Geschichten darüber erzählen, wie ich das Leben verfehlt habe durch moralische Zersetzung in meinem Winkel, durch Mangel einer Außenwelt, durch Entwöhnung von allem Lebendigen und durch sorgfältig gepflegte Bosheit im Kellerloch - das ist bei Gott wenig unterhaltend; ein Roman verlangt einen Helden, hier aber sind absichtlich alle Eigenschaften eines Anti-Helden zusammengetragen, vor allen Dingen wird das Ganze einen äußerst unangenehmen Eindruck hervorrufen, haben wir uns doch alle des Lebens entwöhnt, alle hinken wir, der eine mehr, der andere weniger. Haben wir uns doch so sehr entwöhnt, daß uns mitunter vor dem wirklichen >lebendigen Leben< beinahe Ekel erfaßt, und darum können wir es nicht ausstehen, wenn wir an das Leben erinnert werden. Sind wir doch so weit gekommen, daß wir das wirkliche lebendige Leben beinahe für Arbeit, fast für einen Frondienst halten und im geheimen uns vollkommen einig sind, daß es nach dem Buch besser geht. Und warum zappeln wir uns zuweilen ab, warum gebärden wir uns wie toll, worum betteln wir? Das wissen wir selbst nicht.


Aufzeichnungen aus dem Kellerloch - Fjodor M. Dostojewskij

18.11.2012

weißer Rauch

Midori Kobayashi und ich setzten uns auf eine Parkbank mit Blick auf das Schulgebäude. Die Mauern waren mit Efeu überwachsen und Tauben hockten in den Erkern und ruhten sich aus. Der Kasten hatte Charme. Eine große Eiche stand im Hof und an einer Seite stieg kerzengerade weißer Rauch auf, den das spätsommerliche Licht weich und bauschig erscheinen ließ.
"Weißt du woher der Rauch da kommt?", fragte mich Midori auf einmal.
"Keine Ahnung."
"Da werden Binden verbrannt."
"Aha." Eine bessere Bemerkung fiel mir dazu nicht ein.
"Damenbinden, Tampons und so was," sagte Midori grinsend. "Alle werfen sie in die Behälter in der Toilette. Immerhin ist es ja eine Mädchenschule. Der Hausmeister sammelt sie dann ein und verbrennt sie in der Verbrennungsanlage. Daher kommt der Rauch."
"Wenn man das weiß, sieht er irgendwie unheimlich aus", sagte ich.
"Und wie. Das habe ich auch immer gedacht, wenn ich vom Klassenzimmerfenster aus den Rauch aufsteigen sah. Unheimlich. Auf diese Schule - Mittelstufe und Oberstufe zusammengenommen - gehen fast tausend Mädchen. Natürlich haben ein paar davon noch nicht ihre Periode. Also sagen wir neunhundert und wenn ein Fünftel von den neunhundert gleichzeitig menstruiert, macht das einhundertachtzig Mädchen. Das bedeutet, täglich werfen einhundertachtzig Mädchen ihre Binden in die Behälter."
"Donnerwetter. Auch wenn ich nicht ganz sicher bin, ob diese Zahlen stimmen."
"Auf jeden Fall sind es viele. Hundertachtzig Mädchen! Wie das wohl ist, das ganze Zeug einzusammeln und zu verbennen?"
"Keine Ahnung."[...]
"Hast du nächsten Sonntag Zeit?" fragte Midori.
"Ich hab dir ja schon gesagt, daß ich sonntags immer Zeit habe. Nur ab sechs muß ich arbeiten."
"Wollen wir uns dann nächsten Sonntag treffen?"
"Gut."
"Ich hole dich vormittags im Wohnheim ab, um wieviel Uhr, kann ich aber noch nicht genau sagen. Macht das was?"
"Nein, kein Problem."
"Du, Toru, weißt du was ich jetzt gern machen würde?"
"Keine Ahnung."
"Auf einem großen Bett liegen, sagte Midori. "Mich ganz gemütlich betrinken, du neben mir. Dann würdest du mich ganz langsam ausziehen. Unheimlich zärtlich. Wie eine Mutter ihr kleines Kind, so behutsam."
"Hmm", machte ich.
"Ich fühle mich wohl und ganz entspannt. Doch auf einmal... >Toru, hör auf.Ich hab dich sehr gern, aber ich bin mit jemand anderem zusammen. Ich kann das nicht. Das wäre nicht anständig, also bitte hör auf. Bitte!< Aber du hörst nicht auf."
"Aber ich würde aufhören.", wandte ich ein.
"Weiß ich doch. Aber in meiner Phantasie ist es anders.", erklärte Midori. "Dann zeigst du ihn mir, deinen Ständer. Ich halte mir sofort die Augen zu, aber ich sehe ihn trotzdem ganz kurz. >Hör auf, hör auf, ich will so ein großes, hartes Ding nicht!< rufe ich."
"Er ist gar nicht so groß. Eher Durchschnitt."
"Egal, das hier ist doch Phantasie. Also weiter. Nun machst du ein so niedergeschlagenes Gesicht, daß ich Mitleid bekomme und dich trösten will. >Ist ja gut, du armer Kerl.<"
"Und das würdest du jetzt gern machen?", sagte ich entgeistert.
"Genau."
"Oh, Mann."

Naokos Lächeln - Haruki Murakami

24.10.2012

Fader noch als Fleisch

Aber als meine Augen auf den Stapel weißer Blätter fielen, wurde ich von seinem Anblick gebannt und ich starrte mit erhobener Feder auf dieses blendende Papier: wie hart und grell es war, wie gegenwärtig. Es war nichts an ihm als Gegenwart. Die Buchstaben, die ich gerade darauf geschrieben hatte, waren noch nicht trocken, und schon gehörten sie mir nicht mehr,
"Man hatte Sorge getragen, die schändlichsten Gerüchte zu verbreiten..."
Diesen Satz hatte ich gedacht, er war zuerst ein Stückchen von mir selbst gewesen. Jetzt hatte er sich auf das Papier geprägt, bildete einen Block gegen mich. Ich erkannte ihn nicht wieder. Ich konnte ihn nicht einmal wiederdenken. Er war da, stand mir gegenüber; umsonst hätte ich in ihm ein Merkmal seiner Herkunft gesucht. Jeder andere hätte ihn schreiben können. Aber ich, ich war nicht sicher, ihn geschrieben zu haben. Die Buchstaben glänzten jetzt nicht mehr, sie waren trocken. Auch das war verschwunden: es war nichts mehr von ihrem Glanz übrig.
Was soll ich jetzt tun?[...]
Vor allem, mich nicht rühren, mich nicht rühren... Ach! Diese Schulterbewegung, ich habe sie nicht unterdrücken können... Das Ding, das wartete, ist aufgeschreckt, es ist über mich hergefallen, es strömt in mich hinein, ich bin davon angefüllt. - Es ist nichts: das Ding bin ich. Die Existenz, befreit, losgelöst, fließt in mich zurück. Ich exisitiere.
Ich sehe meine Hand, die sich auf dem Tisch ausbreitet. Sie lebt - das bin ich. Sie öffnet sich, die Finger spreizen und strecken sich. Sie liegt auf dem Rücken. Sie zeigt mir ihren fetten Bauch. Sie sieht aus wie ein umgefallenes Tier. Die Finger, das sind die Beinchen. Ich vergnüge mich damit sie zu bewegen, sehr schnell, wie die Beinchen einer Krabbe, die auf den Rücken gefallen ist. Die Krabbe ist tot: die Beinchen krümmen sich, ziehen sich auf den Bauch meiner Hand zurück. Ich sehe die Nägel - das einzige Ding an mir, das nicht lebt. Meine Hand kratzt eines ihrer Beinchen mit dem Nagel eines anderen Beinchens; Ich fühle ihr Gewicht auf dem Tisch, der ich nicht bin. Das dauert lange, lange, dieser Eindruck von Gewicht, das vergeht nicht. Es gibt keinen Grund, weshalb das vergehen sollte. Auf Dauer ist es unerträglich... Ich ziehe meine Hand zurück, ich stecke sie in die Tasche. Aber sofort spüre ich, durch den Stoff, die Wärme meines Schenkels. Sofort reiße ich meine Hand aus meiner Tasche; ich lasse sie an der Stuhllehne herunterhängen. Jetzt spüre ich ihr Gewicht am Ende meines Armes. Sie zieht ein bißchen, kaum, schlaff, schlabberig, sie existiert. Ich gebe es auf: wohin ich sie auch tue, sie wird weiter existieren und ich werde weiter fühlen, daß sie existiert; ich kann sie nicht unterdrücken, noch kann ich den Rest meines Körpers unterdrücken, weder die feuchte Wärme, die mein Hemd schmutzig macht, noch dieses ganze warme Fett, das träge kreist, als rühre man es mit dem Löffel um, noch alle diese Empfindungen, die sich darin hin und her bewegen, die kommen und gehen, die von meinen Rippen in meine Achselhöhle aufsteigen oder die von morgens bis abends still in ihrer gewohnten Ecke dahinvegetieren.
Ich springe auf: wenn ich bloß aufhören könnte zu denken, das wäre schon besser. Die Gedanken sind das Fadeste, was es gibt. Fader noch als Fleisch. Das zieht sich endlos in die Länge und hinterläßt einen komischen Geschmack.
Mein Speichel ist süß, mein Körper ist lauwarm; ich fühle mich fade. Mein Taschenmesser liegt auf dem Tisch. Ich klappe es auf. Warum nicht? Das bringt jedenfalls ein wenig Abwechslung. Ich lege meine linke Hand auf den Notizblock und stoße mir das Messer fest in die Handfläche. Die Bewegung war zu nervös: Die Klinge ist abgerutscht, die Wunde ist oberflächlich. Das blutet. Und was nun? Was hat sich geändert?[...]
Es schlägt halb fünf. Ich stehe auf, mein kaltes Hemd klebt an meinem Fleisch. Ich gehe hinaus. Warum? Nun, weil ich auch keinen Grund habe, es nicht zu tun. Auch wenn ich bleibe, auch wenn ich mich still in eine Ecke kauere, werde ich mich nicht vergessen. Ich werde da sein, ich werde auf dem Fußboden lasten. Ich bin.

Der Ekel - Jean-Paul Sartre

15.10.2012

Kommunisten und Schach


Natürlich bin ich wieder hingegangen. Ich habe die Tür aufgestoßen. Nach und nach habe ich die Mitglieder des Clubs kennengelernt. Fast alle waren Leute aus Ländern im Osten. Ungarn, Polen, Rumänien, Ostdeutsche, Jugoslawen, Tschechoslowaken, Russen, pardon, Sowjiets, verbesserten einige. Es gab auch einen Chinesen und einen Griechen. Die große Mehrheit teilte die Leidenschaft für das Schachspiel. Zwei oder drei verabscheuten es, spielten nicht und kamen trotzdem jeden Tag hierher. Sie hatten keinen anderen Ort, wo sie hingehen konnten.[...]
Sie hatten mehrere Dinge gemeinsam. Sie waren unter dramatischen oder phantasischen Umständen aus ihrer Heimat geflohen, häufig waren sie anläßlich einer geschäftlichen oder diplomatischen Reise in den Westen gegangen. Einige waren nie Kommunisten gewesen und hatten ihre Meinung jahrelang verheimlicht. Andere waren Kommunisten der ersten Stunde gewesen, zutiefst überzeugt, für das Wohl der Welt einzutreten, bevor ihnen der Schrecken des Systems bewußt wurde und sie erkannten, daß sie in ihre eigenen Falle getappt waren. Einige waren es noch immer, auch wenn sie von ihrer Partei und der kommunistischen Partei Frankeichs verleugnet und verstoßen worden waren, weil sie als Verräter galten.[...]
Sie hatten die Freiheit gewählt und dafür Frau, Kinder, Familie und Freunde aufgegeben. Deshalb gab es in diesem Club keine Frauen. Sie hatten sie in der Heimalt zurückgelassen. Sie waren Schatten, Parias, mittelos, ihre Diplome wurden nicht anerkannt. Ihre Frauen, ihre Kinder und ihr Land befanden sich in einer Ecke ihres Kopfes und ihres Herzens. Sie blieben ihnen treu.[...] Sie besaßen nichts, sie waren nichts, sie waren am Leben. Wie ein Leitmotiv kehrte es bei ihnen immer wieder: "Wir sind am Leben, und wir sind frei." Wie mir eines Tages Sascha sagte: "Der Unterschied zwischen uns und den anderen ist, daß sie leben und daß wir überlebt haben. Wenn man überlebt hat, hat man nicht das Recht, sich über sein Los zu beklagen, das wäre eine Beleidigung derer, die dageblieben sind." [...]

Ich ließ meine Kickerfreunde sitzen und wurde das jüngste Mitglied des Clubs. Ich freundete mich mit Igor Markish an, einem russischen Arzt, der mir Schachspielen beibrachte. Er hatte in Leningrad einen Sohn meines Alters. Er stellte mich seinem Kumpel Kessel vor, mit dem er russisch sprach. Auf diese Weise habe ich auch Sartre kennengelernt. Was ich von ihm erzählen kann, wiederspricht allen Biographien. Sartre scherzte, war ein Spaßmacher, schummelte beim Schachspiel, indem er Bauern stibitzte und in Lachen ausbrach, wenn Kessel ihn überraschte und sich wundere, wo sein Springer auf f5 abgeblieben war. Er kam nicht oft. Er spürte die Feindschaft mehrerer Clubmitglieder, die ihm seine Sympathie für den Kommunismus vorwafen, aber dennoch sein Geld annahmen. Er schrieb den ganzen Nachmittag auf einen Papierblock, ohne den Kopf zu heben, in seine Arbeit vertieft, seine Zigarette bis zum Filter aufrauchend, und niemand wagte es, ihn zu stören. Wir betrachteten ihn mit gewisser Scheu von ferne und hatten den Eindruck, privilegierte Zeugen eines Schaffensprozess zu sein und selbst die , die ihn nicht mochten, achteten darauf, daß Stille herrschte.
"Macht keinen Lärm. Sartre arbeitet."

Der Club der unverbesserlichen Optimisten - Jean-Michel Guenassia

22.09.2012

zu zeichnen begann

Sein unförmiger Körper, der aufgedunsene Bauch, die dicken Schenkel, die behaarte Brust und der breite, schlaffe Hintern, das alles schien ihm nichts auszumachen, so ruhig saß er da und ließ sich von ihr zeichnen, von Unbehagen oder Schüchternheit war ihm nichts anzumerken, und als sie ihn nach zehn Minuten fragte, wie es ihm gehe, sagte er, gut, er vertraue ihr, er hätte nie gedacht, dass er sich so wohlfühlen könnte, wenn jemand ihn so ansehe. Das Zimmer war klein, sie saßen nur gut einen Meter voneinander entfernt und als sie zum ersten Mal seinen Penis zu zeichnen begann, kam ihr der Gedanke, dass sie eigentlich keinen Penis mehr betrachtete, sondern einen Schwanz, dass Penis das Wort für das Ding auf der Zeichnung sei, Schwanz hingegen das Wort für das Ding da einen Meter vor ihren Augen, und wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass Bing einen schönen Schwanz hatte, weder länger noch kürzer als die Mehrheit derer, die sie in ihrem Leben gesehen hatte, aber dicker als die meisten, gut geformt und ohne Besonderheiten oder Schönheitsfehler, ein vorzügliches Exemplar männlicher Auststattung, nicht das was man einen Belistiftschwanz nennt, sondern ein voluminöser Füllfederhalter, ein gediegener Pfropfen für jegliche Körperöffnung.
Als sie ihn ihn mitten in der dritten Skizze fragte, ob er was dagegen hätte, ein wenig an sich herumzuspielen, es interessiere sie, wie es aussehe, wenn er steif werde, antwortete er, kein Problem, es mache ihn sowieso ziemlich scharf, so für sie zu posieren, da habe er auch überhaupt nichts dagegen. Während der vierten Zeichnung bat sie ihn, für sie zu masturbieren und wieder gehorchte er bereitwillig, fragte aber zur Sicherheit nach, ob sie sich nicht lieber auch ausziehen und ihn zu sich aufs Bett lassen würde, was sie jedoch mit Nein beantwortete, sie wolle ihre Sachen lieber anbehalten und weiterzeichnen, aber wenn er im letzten Moment vom Stuhl aufstehen, zu ihr ans Bett treten und sich in ihren Mund entladen wolle, habe sie dagegen nichts einzuwenden.

Sunset Park - Paul Auster

13.09.2012

Die Scheibenwelt


Zweiblum griff nach den Gitterstäben und zog sich hoch.
"Siehst du was?", erklang Hruns Stimme weiter unten.
"Nur Wolken"
Der Barbar ließ ihn herab und nahm auf der Kante eines hölzernen Bettes Platz. Abgesehen von den beiden Liegen enthielt die Kammer keine weiteren Einrichtungsgegestände. "Verdammer Mist", sagte er.
"Gib dich nicht der Verzweiflung hin", erwiederte Zweiblum.
"Verzweiflung? Was ist das?"
"Bestimmt handelt es sich um ein Mißverständnis. Ich nehme an, man läßt uns bald frei. Die Leute hier scheinen recht zivilisiert zu sein."
Hrun wölbte buschige Augenbrauen und musterte den Touristen. Er setzte zu einer Antwort an, überlegte es sich dann anders und seufzte. [...]
"Was passiert jetzt?, fragte Zweiblum.
Hrun bohrte sich im Ohr und betrachtete anschließend den Zeigefinger.
"Oh", meinte er,"ich schätze, gleich öffnet sich die Tür, und dann bringt man mich in eine Arena, wo ich gegen zwei Riesenspinnen und einen achtfüßigen Sklaven aus Klatsch kämpfen muss. Anschließend rette ich irgendeine Prinzessin vom Opferaltar und töte den ein oder anderen Wächter, woraufhin mir die junge Frau einen nach draußen führenden Geheimgang zeigt. Wir schnappen uns zwei Pferde und entkommen mit dem Schatz." Hrun faltete die Hände hinterm Kopf, sah zur Decke hoch und summte leise vor sich hin.
"Glaubst du wirklich, dass soviel geschehen wird?"
"Würde mich überhaupt nicht überraschen."

Die Scheibenwelt ruht auf den breiten vom Sternenschimmer gebräunten Schultern von vier riesigen Elefanten, die ihrerseits auf dem Rücken einer durchs All wandernden gewaltigen Schildkröte namens Groß-A'Tuin stehen. Frühe Astrouoologen sammelten viele Informationen über Gestalt und Natur A'Tuins und der Elefanten, aber grundsätzliche Fragen nach Sinn und Zweck des Universums vleiben unbeantwortet. Zum Beispiel: War A'Tuin weiblichen oder männlichen Geschlechts? Die Astrozoologen wiesen daraufhin, dass man in dieser Hinsicht nur mit Hilfe eines noch größeren und leistungsfähigeren Flaschenzuggerüsts Aufschluß gewinnen könnte. - Seit 1983 sind bereits über 50 Bücher über das Leben auf der Scheibenwelt veröffentlicht worden.

Die Farben der Magie - Terry Patchett

25.08.2012

Der Panther

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille -
und hört im Herzen auf zu sein.

Rainer Maria Rilke, 6.11.1902, Paris
Rainer Maria Rilke (* 4. Dezember 1875 in Prag, Österreich-Ungarn; † 29. Dezember 1926 im Sanatorium Valmont bei Montreux, Schweiz) war einer der bedeutendsten Lyriker deutscher Sprache. Daneben verfasste er Erzählungen, einen Roman und Aufsätze zur Kunst und Kultur sowie zahlreiche Übersetzungen von Literatur und Lyrik unter anderem aus der französischen Sprache. Sein umfangreicher Briefwechsel bildet einen wichtigen Bestandteil seines literarischen Schaffens.

20.08.2012

Gevatter Tod

"Jetzt sollst du dein Patengeschenk empfangen. Ich mache dich zu einem berühmten Arzt. Wenn du zu einem Kranken gerufen wirst, so will ich dir jedesmal erscheinen. Steh’ ich zu Häupten des Kranken, so kannst du keck sprechen, du wolltest ihn wieder gesund machen, und gibst du ihm dann von jenem Kraut ein, so wird er genesen. Steh’ ich aber zu Füßen des Kranken, so ist er mein, und du mußt sagen, alle Hilfe sei umsonst. Aber hüte dich, daß du das Kraut nicht gegen meinen Willen gebrauchst, es könnte dir schlimm ergehen.” Es dauerte nicht lange, so war der Jüngling der berühmteste Arzt auf der ganzen Welt. "Er braucht nur den Kranken anzusehen, so weiß er schon, wie es steht, ob er wieder gesund wird oder ob er sterben muß", so hieß es von ihm, und weit und breit kamen die Leute herbei, holten ihn zu den Kranken und gaben ihm so viel Gold, daß er bald ein reicher Mann war. Nun trug es sich zu, daß der König erkrankte. Der Arzt ward berufen und sollte sagen, ob Genesung möglich wäre. Wie er aber zu dem Bette trat, so stand der Tod zu den Füßen des Kranken, und da war für ihn kein Kraut mehr gewachsen. "Wenn ich doch einmal den Tod überlisten könnte", dachte der Arzt, "er wird’s freilich übelnehmen, aber da ich sein Pate bin, so drückt er wohl ein Auge zu, ich will’s wagen." Er faste also den Kranken und legte ihn verkehrt, so daß der Tod zu Haupten desselben zu stehen kam. Dann gab er ihm von dem Kraute ein, und der König erholte sich und ward wieder gesund. [...]

"Es ist aus mit dir, und die Reihe kommt nun an dich", packte ihn mit seiner eiskalten Hand so hart, daß er nicht widerstehen konnte, und führte ihn in eine unterirdische Höhle. Da sah er, wie tausend und tausend Lichter in unübersehbaren Reihen brannten, einige groß, andere halbgroß, andere klein. Jeden Augenblick verloschen einige, und andere brannten
wieder auf, also daß die Flämmchen in beständigem Wechsel zu sein schienen. ,,Siehst du", sprach der Tod, "das sind die Lebenslichter der Menschen. Die großen gehören Kindern, die halbgroßen Eheleuten in ihren besten Jahren, die kleinen gehören Greisen. Doch auch Kinder und junge Leute haben oft nur ein kleines Lichtchen." -
"Zeige mir mein Lebenslicht", sagte der Arzt und meinte, es wäre noch recht groß. Der Tod deutete auf ein kleines Endchen, das eben auszugehen drohte, und sagte: "Siehst du, da ist es." - "Ach, lieber Pate", sagte der erschrockene Arzt, "zündet mir ein neues an, tut mir's zuliebe, damit ich König werde und Gemahl der schönen Königstochter." - ,"Ich kann nicht", antwortete der Tod, "erst muß eins verlöschen, eh' ein neues anbrennt. - "So setzt das alte auf ein neues, das gleich fortbrennt, wenn jenes zu Ende ist", bat der Arzt. Der Tod stellte sich, als ob er seinen Wunsch erfüllen wollte, langte ein frisches, großes Licht herbei, aber weil er sich rächen wollte, versah er's beim Umstecken absichtlich, und das Stöckchen fiel um und verlosch. Alsbald sank der Arzt zu Boden und war nun selbst in die Hand des Todes geraten.

Märchen der Gebrüder Grimm

19.08.2012

Schweineglück

Die nächste Fußwanderung wurde noch gefährlicher, weil dicker Nebel aufkam, jeder Mann mußte den anderen an der Jacke fassen. Auf den eigenen Spuren wollten sie zum Schiff zurückwandern, John Franklin kontrollierte die Richtung mit dem Kompaß. Aber an den Spuren fiel auf, daß sie merkwürdig frisch waren, zudem wurden sie immer zahlreicher. Dem Kompaß und der Zeit nach hätte die Gruppe schon längst wieder beim Schiff sein müssen. Sie hatten sich verirrt und waren im Kreis gelaufen. "Dabei bleiben wir warm, und irgendwo müssen wir ja ankommen!"
"Ich nehme mir Zeit, bevor ich einen Fehler mache", entgegnete Franklin freundlich. Er befahl, daß sich alle so warm wie möglich einpackten und um die Tranlampe setzten. Die Musketen waren für den Fall, daß sich ein Eisbär hier umsah, gut geladen.
John kauerte und überlegte. Was die anderen ihm auch sagten, Vorschläge, Theorien, Fragen - er nickte nur und überlegte weiter. Selbst als Reid zu Back hinüberraunte: "Du hattest recht mit 'Handicap'", schob John alle Fragen, die sich stellen ließen, weit weg. Er brauchte jetzt nur Zeit.
Eine Weile später fragte Reid:"Wollen wir hier einfach nur warten, Sir?" Aber John war immer noch nicht fertig. Mochte auch der Tod bevorstehen, das war kein Freund eine Überlegung vorzeitig zu beenden. Schließlich stand er auf:
"Mr. Back, Sie schießen alle drei Minuten eine Muskete ab, insgesamt drei Stunden lang, danach zu jeder Stunde einmal, zwei Tage lang. Wiederholen Sie!"
"Sind wir dann nicht tot, Sir?"
"Möglich. Aber bis dahin schießen wir. Bitte, die Bestätigung!"
Back wiederholte stotternd. Als niemand mehr mit einer Erklärung rechnete sagte John: "Das ganze Eisfeld dreht sich. Es ist die einzige Lösung. Deshalb gehen wir im Kreis auch wenn wir nach dem Kompß immer in die derselben Richtung marschieren. Bei Wind hätte wir es sofort gemerkt."
Vier Stunden später hörten sie dünn einen Schuß durch den Nebel und dann immer wieder Antworten auf die ihrigen. Eine Stunde danach vernahmen sie rufende Stimmen, schließlich wurden Männer mit Seilen sichtbar und hinter ihnen, kaum hundert Fuß entfernt, das ragende Heck der Trent.
"Sie haben ein Schweineglück, Sir!" bemerkte Back erleichtert und frech, aber von Geringschätzung war nichts zu spüren, im Gegenteil. Reid verzog das Gesicht. Zu ihm sagte Back: "Wenn wir auf dich gehört hätten, wären wir jetzt sonstwo und war als Eiszapfen!" Reid schwieg. Er gab sich plötzlich einen Ruck und trat heftig nach einer Schneeflocke. John wunderte sich. Wie konnte man nach einer Schneeflocke teten? War da noch etwas anderes?

Die Entdeckung der Langsamkeit - Sten Nadolny

26.07.2012

Elisabeth mußte lächeln

Auch sein gegenwärtiges Interesse an einer anderen Frau konnte ihn nicht vergessen lassen, daß Elisabeth die erste gewesen war, die seine Aufmerksamkeit erregt und auch verdient hatte, die als erste ihn angehört und bedauert hatte, die erste, die er verehrt hatte; und in der Art, wie er ihr Lebewohl sagte, wie er ihr viel Vergnügen wünschte und sie daran erinnerte, was sie von Lady Catherine de Bourgh zu gewärtigen hatte, und wie er der Überzeugung Ausdruck gab, sie würden in ihrer Meinung über diese Dame, ja in ihrer Meinung über jedemann, stets übereinstimmen - in allem lag so viel Bersorgtheit, so viel Anteilnahme, daß sie sich ihm schon dadurch stets innerlich verbunden fühlen mußte; und sie schied von ihm in der Überzeugung, daß er, ganz gleich ob verheiratet oder ledig, ihr stets als Ideal alles dessen erscheinen mußte, was sie für liebenswert und erfreulich hielt.
Ihre Mitreisenden am nächsten Tag waren nicht dazu angetan, sein Bild irgendwie zu verdunkeln. Sir William und seine Tochter Maria, ein gutmütiges Geschöpf, das genauso hohlköpfig war wie er selbst, hatten nichts zu sagen, was anhörenswert sein konnte und Elisabeth ließ ihr Gespräch mit ungefähr dem gleichen Vergnügen über sich ergehen wie das Rattern des Wagens.

"Sprich mit Lissy selbst darüber. Sag ihr, du bestehst darauf, daß sie ihn heiratet."
Frau Bennet läutete die Glocke, und Fräulein Elisabeth wurde in die Biblbiothek gerufen.
"Komm her, mein Kind", rief der Vater, als sie erschien. "Ich habe dich wegen einer wichtigen Angelegenheit holen lassen. Soviel ich weiß, hat Herr Collins dir einen Heiratsantrag gemacht. Ist das wahr?" Elisabeth bestätigte es. "Na schön- und diesen Heiratsantrag hast du abgelehnt?"
"Ja, Vater."
"Na schön. Da kommen wir also jetzt zur Sache. Deine Mutter besteht darauf, daß du ihn annimmst. Nicht wahr, Frau Bennet?"
"Ja, oder sie soll mir nicht vor die Augen kommen!"
"Da stehst du vor einem unglückseligen Zwiespalt, Elisabeth. Vom heutigen Tage an mußt du von einem Elternteil als Fremdling betrachtet werden. Deine Mutter will dich nicht mehr sehen, wenn du Herr Collins nicht heiratest, und ich will dich nicht mehr sehen, wenn du ihn heiratest."
Elisabeth mußte lächeln, daß die Angelegenheit nach einem solchen Anfang einen solchen Ausgang nahm; doch Frau Bennet, die sich eingebildet hatte, Herr Bennet sähe die Sache in ihrem Sinne an, war schwer enttäuscht.
"Was soll das heißen, Bennet, so daherzureden? Du hast mir doch versprochen, darauf zu dringen, daß sie ihn heiratet."
"Meine Teure", erwiderte ihr Gatte, "ich muß um zwei kleine Gefälligkeiten bitten: Erstens, daß du mir erlaubst, in der gegenwärtigen Angelegenheit freien Gebrauch von meinem Verstande zu machen; und zweitens, freien Gebrauch von meiner Biblbiothek zu machen. Ich würde mich freuen, wenn ich mein Arbeitszimmer sobald als möglich wieder für mich haben könnte."

Stolz und Vorurteil - Jane Austen

17.06.2012

Es geht uns gut


Zur allgemeinen Verblüffung geht es der Menschheit und ihrer Umwelt nicht von Jahr zu Jahr schlechter, sondern immer besser. In den entwickelten Ländern ist die Luft heute sauberer als früher, die Flüsse sind reiner, die Lebenserwartung steigt, die Kindersterblichkeit geht zurück. Mehr als sieben Milliarden Menschen gibt es auf der Erde, fast zehnmal so viele wie zu Malthus' Zeiten. Viele von ihnen leben in äußerst bescheidenen, einige in schrecklichen Verhältnissen. Doch der Mehrheit geht es gut, jedenfalls im Vergleich zu früheren Zeiten.[...]
Simon hatte volles Vertrauen in die Menschen. Er ging davon aus, dass steigende Preise die Phantasie und Kreativität anregen. Wird eine Ressource knapp, so seine Überzeugung, dann steigt zunächst ihr Preis. Verbraucher und Unternehmen suchen daraufhin nach Verfahren und Alternativen, um die Knappheit zu überwinden. Der Wettbewerb wird zum "Entdeckungsverfahren", wie es Friedrich August von Hayek nannte. Der Eiffelturm in Paris ließe sich heute problemlos mit 2000 Tonnen Stahl statt mit 7000 Tonnen bauen. Vor hundert Jahren produzierte ein Bauer gerade genug Lebensmittel, um vier Menschen zu ernähren. Heute erntet ein einziger moderner Mähdrescher pro Tag so viel Weizen, dass es für eine halbe Million Brote reicht. Es sind seriöse Wissenschaftler wie der Brite Matt Ridley, die sagen, dass ein modernes Auto bei voller Fahrt heute weniger Schadstoffe produziert als 1970 ein geparktes Auto durch die Lecks in seinen Leitungen.

Der Wirtschaftsnobelpreisträger Simon Kuznets hat Mitte des vergangenen Jahrhunderts untersucht, wie sich das Bruttoinlandsprodukt auf die Einkommensverteilung auswirkt. Später haben andere Ökonomen seine Methode auf die Umweltverschmutzung übertragen. Es kam heraus, dass mit steigendem Wohlstand zunächst die Umweltverschmutzung zunimmt, ein Trend, der sich in Schwellenländern wie China und Indien gerade gut beobachten lässt. Die Menschen dort sind derzeit noch mehr an Kühlschränken interessiert als an der Frage, welchen Schaden Kühlmittel in der Atmosphäre anrichten.
Doch sobald eine Gesellschaft ein gewisses Wohlstandsniveau erreicht, ändert sich die Situation. Die Menschen sehen die verdreckten Flüsse, die verstopften Straßen und die verpestete Luft nun als Ärgernis an. Sie sehnen sich nach mehr Lebensqualität. Umweltschutz rückt ins Zentrum der Politik. [...]
Es ist nicht realitätsfremd, den Wachstumsdrang der Schwellen- und Entwicklungsländer dämpfen zu wollen, sondern auch umweltfeindlich. Globaler Umwelt- und Klimaschutz wird nur funktionieren, wenn die Grundbedürfnisse halbwegs befriedigt sind. Wer ums Überleben kämpft, hat andere Sorgen als Flora und Fauna. "Sind nicht Armut und Not die größten Umweltverschmutzer?", fragte schon Indiens damalige Ministerpräsidentin Indira Gandhi, als die Vereinten Nationen 1972 in Stockholm ihre erste Umweltkonferenz abhielten. "Wir wollen die Umwelt keineswegs weiter verschlechtern, doch wir können nicht für einen Moment die grausame Armut einer großen Zahl von Menschen vergessen. Die Umwelt kann unter den Bedingungen der Armut nicht verbessert werden."
Es braucht ein Mindestmaß an materiellen Wohlstand, damit sich eine Gesellschaft für Ökologie interessiert. Empirische Studien kommen zu dem Ergebnis, dass in Schwellenstaaten die Umweltbelastungen zunächst steigen, bis das Bruttoinlandsprodukt (BIP) einen Pro-Kopf-Wert von etwa 8000 Dollar erreicht. An diesem Punkt setzt ein Bewusstseinswandel ein. Die Menschen haben ihre physiologischen Grundbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung und Obdach so weit befriedigt, dass sie eine positive Einstellung zum Umweltschutz entwickeln. In China, das Pro-Kopf-BIP liegt kaufkraftbereinigt dort jetzt bei etwa 8400 Dollar, lässt sich dieses Phänomen gut beobachten. De Regierung treibt das Thema Umweltschutz voran. Die Luft in Peking und Schanghai wird klarer. Auf anrührende Weise sind die Menschen bemüht, die Natur in die Städte zurückzuholen.[...]

"Ökofimmel" - Alexander Neubacher

11.05.2012

seit ich zwölf geworden sei

Der März kündigte den Frühling an, was Peter glücklich machte: Wenn der Wind nachließ, konnte er seine Gold Wing aus dem Keller holen, wo sie seit dem ersten Schnee untergebracht gewesen war. Doch der März erinnerte Peter auch an meinen nur noch einen Monat entfernten vierzehnten Geburtstag. Für Peter war jeder Geburtstag ein kleiner Schritt hin zur Apokalypse unserer Freundschaft. Er beklagte sich sowieso ständig über mein Alter. Er sagte, seit ich zwölf geworden sei und meine Tage habe, hätte meine Scheide einen gewissen Geruch. Er sei nicht schlimm, sagte er, wahrscheinlich würde er die meisten Männer sogar erregen, doch weil er damals von den Stepptänzerinnen missbraucht worden sei, könne er den Geruch der weiblichen Scheide nicht ertragen und wäre deshlab nicht in der Lage, mich zu lecken. Ich wagte nicht, ihn daran zu erinnern, dass ich im Gegensatz zu ihm Dinge einfach ertrug, die ich nicht mochte: beispielweise die Schmerzen und Langeweile, wenn ich ihn befriedigte. Oder wenn ich mir abscheuliche Geschichten über Prosituierte, Straßenkinder und Ähnliches ausdenken musste.[...]




Peter konnte den Anblick meines Schamhaares nicht ertragen. Einmal drehte ich den Spieß um. Ich sagte, wenn er mich wirklich lieben würde, würde er sich die Eier rasieren, was er dann ganz vorsichtig mit seinem Rasierapparat tat. Obwohl er mir seine Liebe tagtäglich in Briefen erklärte, hatte ich irgendwie das Gefühl, ich bräuchte immer neue Beweise dafür.


"Tiger Tiger" - Margaux Fragos

Wohin?




Zwei Dinge hatte Herr Sommer sowohl im Sommer als auch im Winter bei sich und kein Mensch hat ihn je ohne sie gesehen: Das eine war sein Stock und das andere sein Rucksack. Der Stock war kein gewöhnlicher Spazierstock, sondern ein langer, leicht gewellter Nußbaumstekken, der Herrn Sommer bis über die Schulter reichte und ihm als eine Art drittes Bein diente, ohne dessen Hilfe er niemals die enormen Geschwindigkeiten erreicht und die unglaublichen Strecken bewältigt haben würde, die die Leistungen eines normalen Spaziergängers um so vieles übertrafen. Alle drei Schritte schleuderte Herr Sommer seinen Stock mit der Rechten nach vorn, stemmte ihn gegen den Boden und schob sich damit im Vorübergehen mit aller Macht voran, so daß es aussah, als dienten ihm die eigenen Beine bloß noch zum Dahingleiten, während der eigentliche Schub aus der Kraft des rechten Arms herstammte, die mittels des Stockes auf den Boden übertragen wurde - ähnlich wie bei manchen Flußschiffern, die ihre flachen Kähne mit langen Stangen übers Wasser staken. Der Rucksack aber war immer leer, oder fast leer, denn er enthielt, soweit man wußte, nichts anderes als Herrn Sommers Butterbrot und eine zusammengefaltete hüftlange Gummipelerine mit Kapuze, die Herr Sommer anzog, wenn ihn unterwegs ein Regen überraschte.


Wohin aber führten ihn seine Wanderungen? Was war das Ziel der endlosen Märsche? Weshalb und wozu hastete Herr Sommer zwölf, vierzehn, sechszehn Stunden am Tag durch die Gegend? Man wußte es nicht.

"Die Geschichte von Herrn Sommer" - Patrick Süßkind

09.04.2012

wie am ersten Tag

Leonid nahm seine schwarze Lederbrieftasche und zog aus einem Fach ein vergilbtes Stück Papier, das an den Ecken ausgefranst, zerknittert, fleckig, eingerissen, mit Klebeband repariert war und reichte es mir. Ich hatte Mühe, es zu entziffern. Die wenigen Zeilen in roten, mit der Schreibmaschine getippten Buchstaben verschwammen:
Ich, Leonid Michailowitsch Kriwoschejin, gebe mein Wort, Milene Reynolds nie wiederzusehen, nie wieder Kontakt zu ihr aufzunehmen und ihren Willen bis zum Ende meiner Tage zu respektieren. Ich gebe dieses feierliche Versprechen als Soldat und Inhaber von zwei goldenen Sternen als Held der Sowjetunion. Ausgefertigt zu Paris, Donnerstag, 25. Juni 1953

"[...]Hier glauben manche, ich bereue, wegen eines Abenteuers ohne Zukunft mein Leben ruiniert und meine Stellung verloren zu haben. Ich habe dir schon gesagt, daß ich nichts bereue. Was ich mit ihr 794 Tage lang erlebt habe, war so außergewöhnlich, daß ich für mein ganzes Leben davon erfüllt bin. Ohne zu zögern, würde ich es noch einmal genauso machen. In meinem Unglück bin ich nicht zu bedauern. Ich hatte das Glück Igor zu begegnen und ein paar Freunde zu gewinnen. Freunde behält man sein Leben lang. Wenn du eines Tages am Straßenrand einer Frau begegnest, die dir zuwinkt und dich um Hilfe bittet, bleib auf keinen Fall stehen. Radwechsel ist etwas für Pannenhelfer. Sie sind abgehärtet. Hätte ich mich an die guten alten marxistischen Grundsätze der Arbeitsteilung gehalten, dann säße ich heute nicht hier. Man stopft uns den Schädel mit sinnlosen Prinzipien wie Höflichkeit oder Galanterie voll und bringt uns nicht die Grundregel bei: Mißtrau allen Frauen, die lächeln, sie haben Hintergedanken. Wenn eine Frau nicht lächelt, ist sie natürlich. Wenn sie ins Wasser fällt und um Hilfe ruft, wirf ihr einen Rettungsring zu und geh deines Weges. Das sind elementare Ratschläge, die ein Vater seinem Sohn geben müßte, um ihn vor den Gefahren des Lebens zu schützen. Meiner hat mich nicht gewarnt."
"Etwas verstehe ich nicht, Leonid. Wie kann man eine Frau lieben und nicht darum kämpfen, bei ihr zu sein?"

"Ich habe mein Wort gegeben. Das ist mein Schicksal, meine Art, ihr treu zu sein. Du brauchst nicht geliebt zu werden, um selbst zu lieben. Seit neun Jahren erhält sie jedes Jahr am 5. April einen Mimosenstrauß. Einen anonymen Strauß. Sie weiß ,daß ich ihn schicke. Wenn sie wollte, könnte sie mich wiedersehen. Sie bräuchte nur zu dem Blumenhändler zu gehen, er würde ihr meine Adresse geben. Sie will es nicht. Ich halte mein Versprechen. Vielleicht ändert sie eines Tages ihre Meinung."
"Ihr seid jetzt seit zehn Jahren getrennt. Unmöglich, noch länger daran zu glauben."
"Ich hätte das Kapitel abgeschlossen. Du entscheidest nicht, ob du jemanden liebst oder vergißt. Es ist eine Idee, die dir nie aus dem Kopf geht. Tagsüber lebe ich mit ihr und nachts, wenn ich aufwache, denke ich an sie. Ich bin verliebt wie am ersten Tag. Du kannst einer Frau überdrüssig werden, eine andere wollen. Da ist nicht Liebe, sondern Begehren. Die wahre Liebe ist geistig. Sie spielt sich in deinem Kopf ab und es gibt Tage, an denen ich mir sage, es wäre besser gewesen, sie zu vergessen. Jacky, bring mir einen 102."
Ob wegen der Hunderte Schachpartien, von denen er sich jeden Zug eingeprägt hatte und die ihn zu einem gefürchteten Spieler machten oder wegen seines Abenteuers mit Milene, von dem jede Einzelheit lebendig blieb, Leonid wurde für sein außergewöhnliches Gedächtnis bewundert, aber eben diese Gedächtnis war sein Verhängnis. Es wäre besser gewesen, er wäre einer wie wir, würde sich höchstens an zwei oder drei Partien und nur an die lichten Momente seines Liebeslebens. Wir füchten immer, das Gedächtnis zu verlieren. Es ist die Quelle unserer Leiden. Gut leben wir nur im Vergessen. Das Gedächtnis ist der ärgste Feind des Glücks. Glückliche Menschen vergessen.

Der Club der Unverbesserlichen Optimisten - Jean-Michel Guenassia

13.03.2012

dein Ding


Zu Hause nahmen wir uns zwei Bier und setzten uns. Ich aufs Sofa, er in den Sessel. Ein paar Kommentare über die Leute, die wir auf der Piazza gesehen hatten, ein bisschen über diesen und jenen Seitensprung, über den sich inzwischen alle das Maul zerissen, dann versank er wieder in Schweigen. Er starrte die Bierflasche an und versuchte, mit dem Fingernagel das Etikett abzukratzen.

Ich fragte ihn, ob etwas nicht stimme. Erst antwortete er, alles sei in Ordnung, aber nach einem Moment der Stille brach es aus ihm heraus, als ob er einen Anfall hätte.
"Was ist unser Ding? Ich weiß immer noch nicht, was mein Ding ist. Ich habe das Gefühl, dass ich hier auf diesem dämlichen Planeten bin, um etwas Beteuendes zu tun, aber ich begreife einfach nicht, was... Weißt du, wie man herausfindet was das eigene Ding ist?... Ich habe das Gefühl als würde ich das Leben wegwerfen. Gestern war ich sechszehn... peng, und heute bin ich achtundzwanzig."
"Was für ein Ding denn?"
"Ach, komm schon... dein Ding, deine Bedeutung, dein Talent, die besondere Fähigkeit, die man ausleben soll. Die Sache, das Ding, das jeder hat und das uns von den anderen unterscheidet, die Ursache für meine Existenz, der Sinn des Lebens, was weiß ich denn..."
"Oh... was haben sie dir denn ins Bier getan? Kriegst du die Thirtysomething-Krise schon mit achtundzwanzig oder was?"
"Ach... ich weiß nicht. Ich hab's dir doch gesagt, ich spüre, dass ich was Richtiges tun muss, vielleicht nicht für die ganze Menschheit, aber für mich, etwas Außergewöhnliches für mein Leben, aber ich weiß einfach noch nicht, was. Ich weiß nur, dass ich es satthabe und dass ich in mir eine Energie verspüre, die rauswill. Aber ich schaffe es nicht, sie freizulassen, und das führt dazu, dass ich mich letztlich nur langweile, egal was ich tue."
Er nahm ein Schluck Bier, fuhr sich mit der Unter- über die Oberlippe wie ein Schnurrbartträger, dann brach es aus ihm heraus:"Schluss Schluss Schluss... ich bin es leid, es muss einen Notausgang aus dieser Art zu leben geben, wir haben mehr verdient, als auf der Piazza abzuhängen und zu saufen. Das geht schon viel zu lange so, wir dürfen nicht den Fehler machen, alles laufenzulassen und uns in einem normalen, vorgegebenen Leben zu verlieren. Ich will diese Energie nutzen, bevor sie verschwindet bevor sie nachlässt, erlischt und ich meinen Arsch nicht mehr hochkriege."

"Einfach losfahren" - Fabio Volo

27.02.2012

Chinesisch am Zoo

Während Zoe das Schloss öffnete und Quentin einen halben Schritt schräg vor mir stand, betrachtete ich Zoes Hintern - es hätte einer übermenschlichen Anstrengung bedurft, woanders hinzusehen. Meine Fettpolster mögen ja seit zehn Jahren ein höchst überflüssiges östrogenartiges Hormon produzieren, aber ein bisschen Testosteron kreist doch auch noch in meinem Blut und bestimmt bei Gelegenheit den Fokus meiner Aufmerksamkeit. Als sie sich, immer noch vor dem Rad kauernd, plötzlich umdrehte und mir ins Gesicht sah, glitt mein Blick zwar automatisch mit Überlichtgeschwindigkeit auf das Fahrrad, aber für das sexuelle Sensorium einer Frau ist Überlichtgeschwindigkeit nicht schnell genug. Natürlich hatte sie die Fokusverschiebung mitgekriegt.
"Also", sagte Quentin zu ihr. "Dann sehen wir uns heute Abend."
Sie nickte und ließ sich ein wenig geistesabwesend von ihm küssen. Der Junge musste ja eigentlich bis zum Platzen mit Testosteron angefüllt sein, aber man merkte davon wenig. Während ich noch überlegte, ob für mich nun Wangenkuss oder Händeschütteln angesagt sei, schwang sie sich aufs Rad, was die Seitenschlitze ihres Kleides einen Moment lang weit öffnete, blieb dann mit leicht gespreizten Beinen stehen und sagte zu mir, als sei ihr der Gedanke eben erst gekommen: "War das nur mein Eindruck oder sind in dem Zoo eigentlich nur Tiere, die man essen kann?"

"Der zweitbeste Koch" - Kurt Bracharz

16.02.2012

Danach

Es wird nach einem happy end
im Film jewöhnlich abjeblendt.
Man sieht bloß noch in ihre Lippen
den Helden seinen Schnurrbart stippen-
da hat sie nun den Schentelmen.
Na,und denn-?

Denn jehn die beeden brav ins Bett
Naja.....diß is ja auch janz nett.
A manchmal möchte man doch jern wissen:
Wat tun se, wenn se sich nich kissen?
Die könn ja doch nich immer penn.....!
Na, und denn-?

Denn säuselt im Kamin der Wind.
Denn kricht det junge Paar 'n Kind.
Denn kocht se Milch. Die Milch looft üba.
Denn macht er Krach.Denn weent sie drüba.
Denn wolln sich beede jänzlich trenn.....
Na, und denn-?

Denn is det Kind nich uffn Damm.
Denn bleihm die beeden doch zesamm.
Denn quäln se sich noch manche Jahre.
Er will noch wat mit blonde Haare:
vorn doof und hinten minorenn....
Na, und denn-?

Denn sind se alt.
Der Sohn haut ab.
Der Olle macht nu ooch bald schlapp.
Vajessen Kuß und Schnurrbartzeit-
Ach, Menschenskind,wie liecht det weit!
Wie der noch scharf uff Muttern war,
det is schon beinah nich mehr wahr!
Der olle Mann denkt so zurück:
wat hat er nu von seinen Jlück?
Die Ehe war zum jrößten Teile
vabrühte Milch und Langeweile.
Und darum wird beim happy end
im Film jewöhnlich abjeblendt.

Kurt Tucholsky
Kurt Tucholsky (* 9. Januar 1890 in Berlin; † 21. Dezember 1935 in Göteborg) war ein deutscher Journalist und Schriftsteller. Er schrieb auch unter den Pseudonymen Kaspar Hauser, Peter Panter, Theobald Tiger und Ignaz Wrobel. Tucholsky zählte zu den bedeutendsten Publizisten der Weimarer Republik. Als politisch engagierter Journalist und zeitweiliger Mitherausgeber der Wochenzeitschrift Die Weltbühne erwies er sich als Gesellschaftskritiker in der Tradition Heinrich Heines. Zugleich  war er Satiriker, Kabarettautor, Liedtexter, Romanautor und Lyriker. Er verstand sich selbst als linker Demokrat, Pazifist und Antimilitarist und warnte vor der Erstarkung der politischen Rechten.

14.02.2012

dann ist sie...

"Also ich erklär euch das jetzt. Eine Frau will einen Mann nicht mit ihrem ganzen Körper. Nein. Sie will ihn vor allem an einer Stelle. Weißt du, was ich meine. Denise? Nein? Noch nicht? Bald wirst du's wissen. Eine Frau will einen Mann an einer ganz bestimmten Stelle, und die ist genau hier zwischen ihren Beinen."
Sie zeigte und drückte die Hand auf ihr Kleid, um es ihnen vorzuführen.
"Eine ganz kleine Stelle. Also, wenn man ihr diese Stelle wegnimmt, wisst ihr, was dann passiert? Man nimmt ihr die ganze Lust.
Wirklich. Sie ist für immer weg. Das klappt. In manchen Gegenden machen sie das immer so, das ist das Normalste von der Welt. Ich glaube, wenn ein Mädchen ein bestimmtes Alter erreicht. Damit sie nicht herumstreunt. Was weiß ich, in Afrika und Arabien und Neuginea, glaube ich. Für die gehört das zur Zivilisation.
Und da denke ich mir: Warum nicht auch bei uns? Wir nehmen ihr einfach diese kleine Stelle weg. Wir brennen sie ihr raus. Mit dem Eisen.
Und dann ist sie... volkommen."
Schweigend starrten alle Ruth an. Sie konnten nicht glauben, was sie gehört hatten.
Ich glaubte ihr.
Ich begann zu zittern wie in einem heftigen Dezemberwind. Weil ich es sehen konnte, ich roch es, ich hörte ihre Schreie. Mein Blick ging bis weit in Megs Zukunft, in meine Zukunft - ich die Konsequenzen einer solchen Tat. ...

Er trat zurück. Das Papier ging in hellen Flammen auf.
Sie wandte sich den anderen zu. "Wer will es machen?"
"Ich", antwortete Eddie.
Sie schaute ihn mit einem leisen Lächeln an. Es war genau der Blick, der vor nicht allzulanger Zeit nur mir vorbehalten war.
"Hol das Eisen."
Eddie holte es.
Sie hielten es in die Flammen. Es war ganz still.
Als sie meinte, dass es heiß genug war, zog er es heraus, und wir gingen alle zurück in den Bunker.

Darrüber werde ich euch nichts erzählen.
Ich weigere mich
Es gibt Dinge, die erzählt man nicht. Da stirbt man lieber.
Dinge, von denen man weiß, dass man besser gestorben wäre, statt sie zu erleben.
Diese Dinge habe ich erlebt.

"Evil" - Jack Ketchum

19.01.2012

"Ich stand nie vor seiner Tür. Das war nicht mein Stil"

Man hat die Geschichte von John und Yoko immer als die einer durchtriebenen, selbstherrlichen Frau dargestellt, die sich den berühmten Beatle bei ihrem ersten Treffen - oder vielleicht schon früher- als Beute wählte und ihn dann mit rücksichtslosem Einsatz verfolgte, bis sie ihr Ziel erreicht hatte. Dabei gibt es wohl kaum ein brühmtes Liebespaar, dass auf solchen Umwegen und mit so viel Bedenken auf beiden Seiten zueinanderfand wie dieses.

Yoko gesteht zwar ein, dass sie sich bei ihrem ersten Zusammentreffen von John angezogen fühlte, im Wesentlichen aufgrund ihres Hangs zu working class guys, der wohl Teil der Rebellion gegen ihr Elternhaus und ihre soziale Herkunft war. [...]

Nach ihrer Begegnung bei der Ausstellung Claes Oldenburg sandte sie John ein Exemplar von Grapefruit, ihrer Sammlung von instructional poems. Aber sie tat dies ohne Hintergedanken, wie sie betont: "Ich hatte ein paar Exemplare des Buches aus New York mitgebracht, da es in England noch nicht auf dem Markt war. Ich erwähnte es John gegenüber, als wir uns unterhielten und schickte ihm dann ein signiertes Exemplar, wie es jeder Autor in einer solchen Situation tun würde."


Grapefruit war für John die Bestätigung, dass diese Frau aus einer ihm völlig fremden Welt die gleiche Wellenlänge hatte wie er. Das schlichte kleine weiße Buch lag immer neben seinem Bett, und er stellte sein umfangreiches Leseprogramm dafür hintan; immer wieder kehrte er zu den einzelnen Strophen ohne Reimschema zurück - manchmal waren es auch nur einzelne Zeilen -, die zwischen dem Mystischen und dem Schelmischen changierten: Zünde ein Streichholz anund warte bis es abgerannt ist. ... Stelle einen Schlüssel her. Finde ein Schloss zu dem er passt. Wenn du es gefunden hast, brenne das Haus ab, das daran hängt. ... Höre der Erde zu, wie sie sich dreht. Da ihm der blanke Opportunismus der Popmusik und ihre lächerlich aufgeblähten Werte bewusst waren, schätzte er auch die "Ono-Preisliste", auf der leere Tonbänder mit verschiedenen Arten von Schneefall in der Dämmerung angeboten wurden, und das für 25 Cent pro Inch.

"John Lennon Die Biographie" - Philip Norman

10.01.2012

Die Medien, das sind wir!

Information führt zu Wahrnehmung, Wahrnehmung führt zu Handeln, das aufsummierte Handeln ist unsere soziale Realität. Über die vergangenen Jahrtausende – bis heute – üben Partikularinteressen über die Medien Einfluss auf die soziale Ordnung aus. Stets war die Informationsverbreitung eng verbunden mit religiöser, staatlicher oder wirtschaftlicher Herrschaft.

Aktuell ist es ein eng verknüpftes Netz von Konzernmedien, das Entscheidungen stützt, verhindert, beeinflusst oder herbeiführt. Hinzu kommt die Macht des Agenda Settings, die große Medien ausüben. So legen diese vor allem auch fest, über welche Themen gesamtgesellschaftlich überhaupt gesprochen wird. Gleich einer unsichtbaren Matrix wird ein Rahmen festgelegt in dem wir uns geistig bewegen und aus dem wir nur schwerlich ausbrechen können. Auch als kritischer Nutzer oder Verweigerer der Massenmedien sind wir von diesem Agenda Setting betroffen. Denn wenn unsere unmittelbare Umgebung dergestalt beeinflusst wird, hat dies auch Rückwirkungen auf uns selbst.

Die digitale Revolution menschlicher Kommunikation eröffnet uns nun erstmals in der Geschichte die Möglichkeit, diese ideellen Fesseln zu zerschlagen. Das Internet, als dezentrales, freies Netz ist der Raum in dem wir uns vollends entfalten können und in dem wir – wenn wir bewusst handeln – die Struktur medialer Informationsverbreitung nachhaltig ändern können. Seit vielen Jahren arbeiten engagierte Menschen überall auf der Welt daran, uns Technologien zur Verfügung zu stellen, die diesen wichtigen Schritt nun ermöglichen. An erster Stelle sei hier das Bloggen genannt. Blogs geben jedem von uns die Möglichkeit selbst zu publizieren, also selbst Teil des Mediennetzes zu sein. Im Verbund, sprich in der Vernetzung, können wir uns gegenseitig informieren und sind fortan nicht mehr oder immer weniger auf die Information großer Konzernmedien angewiesen.

Auch können wir künftig mitentscheiden welche Themen uns am Herzen liegen, welche Probleme wir am dringlichsten lösen wollen und wie dies geschehen soll. Wir müssen nicht tagelang über banale Personalfragen reden, wenn es eigentlich wichtigere Dinge zu besprechen gibt. So gilt: Die Informationsverbreitung zu dezentralisieren heißt die Gesellschaft zu demokratisieren.

Blogs dienen auch als Archive umfassender Debatten, deren Teilnehmer im Verbund stets mehr Wissen zusammentragen als jeder Einzelne dies alleine tun könnte. Blogartikel und -diskussionen sind jederzeit für jeden einsehbar, verlinkbar, verbreitbar, vernetzbar. Blogs sind neben Wikis das ideale Werkzeug um den Wissensschatz, den die Menschheit über Jahrtausende angesammelt hat, strukturiert aufzubereiten und transparent für alle zugänglich zu machen.

Nun gibt es auch viele Skeptiker des Internets. Das Internet ermöglicht die totale Kontrolle heißt es immer wieder und soziale Netzwerke dienen letztendlich nur dem Zweck uns auszuspionieren, uns zu rastern und uns so zu immer effizienteren Kunden nutzloser Produkte zu machen. All dies ist nicht immer von der Hand zu weisen. Doch liegt es an uns, ob wir Dienste wie facebook nutzen um in einer persönlichen Lebens-Chronik jeden Kaffee den wir trinken einzutragen oder ob wir soziale Netzwerke als das verstehen was sie eigentlich sind: Dezentral verästelte Verbindungskanäle zwischen uns allen. Wir können diese Netzwerke nutzen um gesellschaftlich relevante Information auszutauschen und zu verbreiten. Zur Aufbereitung und Archivierung von Wissen taugen Netzwerke wie facebook jedoch nicht.

Das Internet als solches ist unser Raum und als diesen sollten wir ihn auch begreifen. Wir sollten nicht den Fehler machen, den wir vor einigen Jahrzehnten im politischen System gemacht haben: Andere haben dort vielleicht verächtliche Pläne verfolgt, wollten und wollen Wissen und Macht monopolisieren, also wendeten wir uns ab. Dies darf jedoch nicht die Schlussfolgerung sein, die wir für die Zukunft ziehen. Die Schlussfolgerung muss lauten: Besetzen wir das Netz, füllen wir es mit unseren Ideen! Begreifen wir es als die demokratischste und freieste Struktur, die jemals in der Menschheitsgeschichte geschaffen wurde und verteidigen wir es gegen jede Art der Zensur, gegen jede Art der Monopolisierung und gegen jede Art der Privatisierung. Unzählige Online-Aktivisten auf der ganzen Welt führen seit Jahren diesen Kampf, damit wir alle auch weiterhin das Netz zum freien Informationsaustausch nutzen können.

Wir alle haben in unserem Leben eine Menge gelernt. Vieles von dem sollten wir weitergeben und teilen. Wer denkt kann auch schreiben und wer schreiben kann, kann auch bloggen.

Die Zukunft wird in der Gegenwart geschrieben und sie ist nur dann demokratisch und gerecht wenn alle mitschreiben. Hört auch auf euch gegenseitig für das Verbreiten von Information anzugreifen. Herrschaft und Macht beruhen immer auf der Zurückhaltung und Kanalisierung von Information – nicht auf der freien Verbreitung ebendieser. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe das dezentrale Netz kleiner Medien weiter auszubauen und zu nutzen. Jeder Einzelne kann hierzu etwas beitragen und sollte dies auch tun. Denn Wissen ist Macht, und wir sozialisieren die Macht indem wir das Wissen sozialisieren.

Von Florian Hauschild the babyshambler

02.01.2012

Rostrot, kupferbraun, fast bronze



Patrick Salmen

du bist, was du hast


Wer bin ich, wenn ich bin, was ich habe und dann verliere, was ich habe? Nichts als ein besiegter, gebrochener, erbarmenswerter Mensch, Zeugnis einer falschen Lebensweise. Weil ich verlieren kann, was ich habe, mache ich mir natürlich ständig Sorgen, dass ich verlieren werde, was ich habe. Ich fürchte mich vor Dieben, vor Krankheit, vor dem Tod und ich habe Angst zu lieben, Angst vor Freiheit, vor dem Wachsen, vor der Veränderung, vor dem Unbekannten. So lebe ich in ständiger Sorge und leide an chronischer Hypochondrie, nicht nur in bezug auf Krankheiten, sondern hinsichtlich jeglichen Verlusts, der mich treffen könnte; ich werde defensiv, hart, mißtrauisch, einsam von dem Bedürfnis getrieben, mehr zu haben.

Ein weiterer ermutigender Aspekt ist die wachsende Unzufriedenheit mit unserer gegenwärtigen Gesellschaftsordnung. Eine zunehmende Zahl von Menschen empfindet die "malaise du siecle" aller Verdrängungsversuche. Sie fühlen die Öde ihrer Isolation und die Leere ihres Zusammenseins; sie empfinden ihre Ohnmacht, die Sinnlosigkeit ihres Lebens. Viele spüren das sehr klar und bewußt; andere weniger deutlich, aber sie werden gewahr, wenn jemand anderer es in Worte faßt.

Haben oder Sein - Erich Fromm

so macht's 'ne Frau

"Warte mal 'ne Minute. Ich werd dir was zu essen zurechtmachen. Vielleicht hast du's nötig."
So machte sie mir also was zu essen zurecht und fragte: "Sag mal, wenn sich 'ne Kuh hinlegt, mit welchem Ende steht sie dann zuerst wieder auf? Antworte mir gleich - denk nicht erst drüber nach. Mit welchem Ende steht sie zuerst auf?"
"Mit dem hinteren Ende."
"Na, und 'n Pferd?"
"Mit dem vorderen Ende."
"An welcher Seite sind die Bäume am meisten mit Moos bewachsen?"
"An der Nordseite."
"Wenn fünfzehn Kühe zusammen auf 'nem Abhang weiden, wie viele von ihnen halten dann beim Fressen den Kopf in dieselbe Richtung?."
"Alle fünfzehn."
"Na, ich glaube, du hast wirklich auf dem Lande gelebt. Ich dachte, vielleicht wolltest du mich wieder an der Nase rumführen. Wie heißt du denn nun wirklich?"
"George Peters."
"Na, versuch, dich dran zu erinnern, George. Vergiss nicht und erzähl mir nicht, du heißt Alesander, bevor du gehst, um dich dann, wenn ich dich erwische, damit rauszureden, dein Name war George-Alexander. Und komm in dem alten Kuttenkleid da Frauen nicht zu nah. Die Rolle von 'nem Mädchen spielst du ziemlich schlecht, aber Männer könntest du vielleicht irreführen. Du lieber Himmel Kind, wenn du 'ne Nadeln einfädeln willst, dann halt nicht den Faden still und für nicht die Nadel heran, sondern halt die Nadel still und führ den Faden durch - so macht's 'ne Frau fast immer, aber Männer machen's stets umgekehrt.[...]

"Huckleberry Finns Abenteuer" - Mark Twain