24.10.2013

das Trolley-Problem

Szenario 1:
Eduard ist der Fahrer einer Straßenbahn, deren Bremsen gerade versagt haben. Auf dem Gleis geradeaus vor ihm sind fünf Personen; die Böschung ist so steil, sodass sie keine Möglichkeit haben, rechtzeitig das Gleis zu verlassen. Das Gleis hat nach rechts eine Abzweigung und Eduard kann die Straßenbahn dorthin lenken. Unglücklicherweise befindet sich eine Person auf diesem rechten Gleis. Eduard kann die Straßenbahn umlenken und damit die eine Person töten; oder er kann es unterlassen, die Straßenbahn umzulenken und dadurch die fünf Personen töten...
Szenario 2:
Georg befindet sich auf einer Fußgängerbrücke. Er kennt sich mit Straßenbahnen aus und er kann sehen, dass die Straßenbahn, die sich der Brücke nähert außer Kontrolle geraten ist. Auf dem Gleis hinter der Brücke sind fünf Personen; die Böschung ist sehr steil und sie werden nicht die Möglichkeit haben, das Gleis rechtzeitig zu verlassen. Georg weiß, die einzige Möglichkeit, die außer Kontrolle geratene Straßenbahn zu stoppen, ist, ihr ein sehr schweres Gewicht in den Weg zu werfen. Aber das einzig verfügbare, ausreichend schwere Gewicht ist ein dicker Mann, der auch auf der Fußgängerbrücke die Straßenbahn beobachtet. Georg kann den dicken Mann auf das Gleis der Straßenbahn stoßen und ihn dadurch töten; oder er kann es unterlassen, die Straßenbahn aufzuhalten und dadurch fünf Personen sterben lassen.

von Philippa Foot und Judith Jarvis Thomson - das Trolley-Problem
"Philosophische Gedankenexperimente" 

14.10.2013

Es waren diese Tage


In welchen Zug er sich setzen sollte, wusste er nicht. Er wollte bloß allein sein, doch er wollte nicht bloß allein sein. Er wollte nichts tun, zugleich sehnte er sich danach, etwas Großes zu tun. Am liebsten hätte er sich zweigeteilt und als der eine Jonas zugesehen, wie der andere als leuchtender Stern am Himmel explodierte. Als er am Schalter die Fahrkarte kaufte, merkte er, wie dasselbe Gefühl in ihm aufstieg, das er damals im Garten empfunden hatte, die Flasche mit dem Olivenöl in der Hand. Er suchte sich ein freies Abteil und war sich bewusst, dass das, was er zu tun im Begriff war, wenig Sinn hatte und gerade dadurch Freiheit bedeutete. Auch wenn er nicht verstand, wie das eine mit dem anderen genau zusammenhing. In Kiel bat er einen alten Taxifahrer, ihn zur billigsten Herberge der Stadt zu bringen. Der Rezeptionist schwitzte stark, roch nach Alkohol, hatte schmutzige Fingernägel und fettige Haut. Das Zimmer war weniger schäbig als erwartet, zumindest war es nicht schmutzig. Dafür entdeckte er an der Nachttischlampe ein kaputtes Kabel mit einem blanken Draht. Die Einrichtiung war dunkel und trist. Jonas öffnete das kleine Fenster und legte sich aufs Bett.

Hier war er nun.
Überall könnte er sein. Er hatte genug Geld in der Tasche, er könnte in einem Nobelhotel in den Schweizer Alpen sitzen und den großen Mann spielen, er könnte mit seinem gefälschten Ausweis in einer New Yorker Bar versuchen, einen Drink zu bekommen, er könnte in London spazieren gehen, er könnte bei seiner schönen Freundin Vera sein und sich das Surfen beibringen lassen, ja vielleicht sollte er das sogar, er könnte auch einfach zu Hause sein, wo alles behaglich und vertraut war, doch er lag hier, auf einem Bett, auf dem weiß Gott wer alles gelegen war, in einem Zimmer, das wirkte, als kämen hierher Menschen zum sterben und vielleicht waren hier tatsächlich Menschen gestorben, er musste den Rezeptionisten fragen, er lag in einem Bett, in einer Stadt, die er nicht kannte und die ihn nicht interessierte, er befand sich in einer Situation, die ihn maßlos fesselte.

Ab und zu überkam ihn die Vorstellung einer Riesenwelle, die fern auf ihn zurollte. Doch er genoss das Gefühl, das dieses Bild in ihm auslöste, so wie er jeden Schritt, jede Sekunde des leeren Nichttuns in der Stadt genoss. Er hatte das Gefühl, nahe am Kern seines Wesens zu sein, an dem, was ihn im Innersten ausmachte, ohne freilich auch nur das Geringste davon zu verstehen. Zugleich sagte er sich, dass es Dinge gab, die sich jedem Verständnis entzogen.
Die nächsten drei Tage glichen den ersten. Die meiste Zeit zwang sich Jonas, das Zimmer nicht zu verlassen und genoss die absurde Befriedigung, die er aus dem Bewusstsein zog, eigene Befehle zu befolgen. Dann und wann verließ er das Haus, um sich die Stadt anzusehen und am Hafen zu sitzen. Er fuhr zu der Schule, in die Vera gegangen war, und besuchte andere Plätze, von denen sie ihm erzählt hatte. Überall machte er Fotos mit dem Fotoapparat, den er sich während eines Zwischenhalts gekauft hatte.
Liebe ist: den leuchtenden Punkt der Seele des anderen zu erkennen und anzunehmen und in die Arme zu schließe, vielleicht gar über sich selbst hinaus.
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Es waren diese Tage, in denen er vieles begriff. Er würde nie ein erfülltes Leben führen können, wenn er nicht versuchte, es einer Sache zu widmen, die größer war als er. Es mochte etwas sein, was er jetzt noch nicht kannte und nicht verstand - sein Leben sollte nicht beschränkt sein auf Inhalte, die den Menschen in Ketten legte und es sollte nie bestimmt werden von Angst, diesem Monster. Freiheit indes, er fühlte es so stark wie nie, war das höchste Gut. Physische, geistige, seelische Freiheit.- Kostbarer als Gesundheit. Wertvoller als Glück. Wichtiger als das Leben selbst.

"Das größere Wunder" - Thomas Glavinic

07.10.2013

kapitalistischer Zombie

Interview mit Michael Hardt, lehrender Philosoph und bekennender Marxist an der Duke University USA

Sie schreiben, dass der Geist der Revolte wie eine Fackel von Tunesien nach Ägypten und von dort nach Europa und in die USA gereicht worden sei. In Tunesien und Ägypten regieren heute Islamisten und Militärs, Spanien und Griechenland haben weiterhin große wirtschaftliche Probleme, und der Zucotti Park in New York ist nur och ein leerer Platz nahe der Wall Street. Man könnte sagen: Überall, wo die Fackel brannte, blieb nur Asche zurück.
Gute Metapher, aber lassen Sie uns eine andere probieren: 1851 blicke Karl Marx auf ein halbes Jahrhundert revolutionärer Aufbrüche in Frankreich zurück. Er sah lauter vertane Chancen: Die  Revolution von 1789 endete mit Napoleon, so schlimm ist es heute nicht mal in Tunesien. 1830 scheiterte die Junirevolution, 1848 die Februarrevolution . Marx war nicht frustriert, sondern beschrieb den  revolutionären Prozess als einen Maulwurf. Alle paar Jahre steckt er seinen Kopf aus dem Boden. Doch wenn ihn nicht sieht, ist er nicht weg: Unter der Erde gräbt er sich vorwärts und taucht an immer neuen Stellen auf.
Dennoch: Trotz aller Empörung gibt es keine Mehrheit gegen den Kapitalismus. Warum ist er nicht totzukriegen?
Ich halte ihn eher für untot, wie ein Zombie: Der Kapitalismus ist intellektuell erledigt, aber er läuft noch durch die Gegend und richtet Schaden an. Wir wissen um seine Unzulänglichkeiten, sind aber unfähig, uns etwas Besseres vorzustellen. Fredric Jameson schrieb, es falle uns heute leichter, uns das Ende der Welt vorzustellen, als das Ende unseres Wirtschaftssystems. Da ist was dran.
Was ist eigentlich das Ziel für Sie, eine Welt ganz ohne Privateigentum? 
Nein, das wäre vielleicht ein Mittel, aber kein Ziel. Das Ziel einer revolutionären Veränderung ist eine Gesellschaft, die uns allen besser ermöglicht, unsere Potenziale zu entfalten. Für viele Menschen besteht heute keine Möglichkeit, zu tun, wozu sie in der Lage wären. Seiner Fähigkeiten beraubt zu sein ist brutal und betrifft oft junge Leute, für die es keine Arbeit und keine Mitbestimmung gibt.

Interview: Oskar Piegsa
Die Zeit: Campus, Ausgabe Nr 4 2013