24.02.2009

ein melancholisches Genie

Jerry redete und ich hörte zu. Allmählich erfuhr ich immer mehr über sein Leben während er, wie man gefahrlos sagen kann, immer weniger über meines erfuhr. Dank meiner angeborenen Zurückhaltung hatte er mit meiner Persönlichkeit freie Hand. Er konnte aus mir so ziemlich alles machen, was er wollte, und bald wurde mir schmerzlich klar, dass er in mir hauptsächlich ein niedliches Tier sah, närrisch und ein bisschen dumm, so was wie einen sehr kleinen Hund mit vorstehenden Zähnen. Er hatte nicht die leiseste Ahnung von meinem Chrakater, davon, dass ich eigentlich äußerst zynisch war, einigermaßen niederträchtig und ein melancholisches Genie oder dass ich mehr Bücher gelesen hatte als er. Ich liebte Jerry, befürchtete aber, dass seine Liebe nicht mir galt, sonder einem Fantasiegebilde. Mit der Liebe zu Fantasiegebilden kannte ich mich aus. Und in meinem Herzen wusste ich stets, dass er bei unseren gemeinsamen Abenden, wenn er trank und erzählte, in Wirklichkeit Selbstgespräche führte.
Höre ich da ein Glucksen? Sie glauben wohl, Sie hätten mich durchschaut. Ich weiß, ich weiß, was ich weiter vorne gesagt habe - wo ich meine Liebe zu Rissen, mein fast pathologisches Bedürfnis nach Verstecken, meine Vorliebe für Masken eingestand, bezeugte und mit meiner perversen Art sogar damit prahlte. Warum also, fragen Sie, beschwere ich ,ich jetzt, wo mir eine neue Gelegenheit zum Verbergen geboten wird, die goldene Chance schlechthin, mich in den undurchdringlichen Deckmantel des Kuscheltiers zu hüllen?
Tja, ich will es Ihnen verraten: [...]

"Firmin - Ein Rattenleben" von Sam Savage

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