28.12.2012

die erste dieser Welt

"Sein Lebenstraum war, Religion und Wissenschaft zu vereinen", sagte sie. "Er hoffte beweisen zu können, dass Religion und Wissenschaft zwei durchaus miteinander vereinbare Dinge seien - zwei verschiedene Wege zu ein und derselben Wahrheit." Sie zögerte, als glaubte sie slebst nicht an das, was als Nächstes kam. "Und vor kurzem... Fand er einen Weg dorthin." Kohler schwieg.
"Er entwickelte ein Experiment, von dem er hoffte, das es einen der erbittersten Konflikte in der Geschichte von Wissenschaft und Religon beenden könnte."
Langdon fragte sich, welchen Konflikt sie meinte. Es gab zu viele.
"Die Schöpfung.", erklärte Vittoria. "Der Streit darüber, wie das Universum entstanden ist."
Oh, dachte Langdon. Dieser Streit.[...]
"Herr Direktor, die Wissenschaft behauptet das Gleiche wie die Religion, dass der Urknall alles im Universum zusammen mit seinem Gegensatz schuf."
"Einschließlich der Materie selbst", flüsterte Kohler wie zu sich selbst.
Vittoria nickte. "Einschließlich der Materie selbst. Und als mein Vater sein Experiment durch führte, entstanden zwei Formen von Materie."
"Langdon fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Leonardo Vetra hat den Gegensatz zvon Materie erschaffen?
Kohler starrte sie ärgerlich an. "Die Substanz, auf die Sie hier anspielen, existiert irgendwo im Universum, aber ganz gewiss nicht hier! Sehr wahrscheinlich nicht einmal in unserer Milchstraße."
"Ganz genau.", erwiderte Vittoria. "Und das ist der Beweis dafür, dass die Partikel in diesen Behältern erschffen worden sein müssen!"
Kohlers Miene wurde hart. "Vittoria, Sie wollen doch wohl nicht behaupten, dass sich in diesen Behältern Proben davon befinden?"
"Genau das." Vittoria betrachtete stolz die Behälter. "Herr Direktor, vor sich sehen Sie die erste Antimaterie dieser Welt."

Illuminati - Dan Brown

19.12.2012

an alle die anders denken

Das Marmeladenglas

Ein Philosophie-Professor stand vor seinem Kurs und hatte ein kleines Experiment vor sich aufgebaut: Ein sehr großes Marmeladenglas und drei geschlossene Kisten. Als der Unterricht begann, öffnete er die erste Kiste und holte daraus Golfbälle hervor, die er in das Marmeladenglas füllte. Er fragte die Studenten, ob das Glas voll sei. Sie bejahten es.
Als nächstes öffnete der Professor die zweite Kiste. Sie enthielt M&Ms. Diese schüttete er zu den Golfbällen in den Topf. Er bewegte den Topf sachte und die M&Ms rollten in die Leerräume zwischen den Golfbällen. Dann fragte er die Studenten wiederum, ob der Topf nun voll sei. Sie stimmten zu.
Daraufhin öffnete der Professor die dritte Kiste. Sie enthielt Sand. Diesen schüttete er ebenfalls in den Topf zu dem Golfball-M&M-Gemisch. Logischerweise füllte der Sand die verbliebenen Zwischenräume aus. Er fragte nun ein drittes Mal, ob der Topf nun voll sei. Die Studenten antworteten einstimmig ja.
Der Professor holte zwei Dosen Bier unter dem Tisch hervor, öffnete diese und schüttete den ganzen Inhalt in den Topf und füllte somit den letzten Raum zwischen den Sandkörnern aus. Die Studenten lachten.
Nun, sagte der Professor, als das Lachen nachließ, ich möchte, dass Sie dieses Marmeladenglas als Ihr Leben ansehen.
Die Golfbälle sind die wichtigen Dinge in Ihrem Leben: Ihre Familie, Ihre Kinder, Ihre Gesundheit, Ihre Freunde, die bevorzugten, ja leidenschaftlichen Aspekte Ihres Lebens, welche, falls in Ihrem Leben alles verloren ginge und nur noch diese verbleiben würden, Ihr Leben trotzdem noch erfüllen würden.

Er fuhr fort: Die M&Ms symbolisieren die anderen Dinge im Leben wie Ihre Arbeit, ihr Haus, Ihr Auto. Der Sand ist alles Andere, die Kleinigkeiten.
Falls Sie den Sand zuerst in das Glas geben, schloss der Professor, hat es weder Platz für die M&Ms noch für die Golfbälle. Dasselbe gilt für Ihr Leben. Wenn Sie all Ihre Zeit und Energie in Kleinigkeiten investieren, werden Sie nie Platz haben für die wichtigen Dinge. Achten Sie zuerst auf die Golfbälle, die Dinge, die wirklich wichtig sind. Setzen Sie Ihre Prioritäten. Der Rest ist nur Sand.
Einer der Studenten erhob die Hand und wollte wissen, was denn das Bier repräsentieren soll.
Der Professor schmunzelte: Ich bin froh, dass Sie das fragen. Das zeigt Ihnen, egal wie schwierig Ihr Leben auch sein mag, es ist immer noch Platz für ein oder zwei Bier.

Autor unbekannt aus http://www.hanzelhoff.com/blog/?p=6583

14.12.2012

Weltenwanderer

Was sollte es nützen, wenn ich alleine um die Welt wanderte? Würde es mir als Einzelnem überhaupt gelingen, eine Veränderung herbeizuführen? Diese Zweifel kamen mir immer wieder in den Sinn.
Als ich mit meinem Onkel Christoph durch das Salzkammergut wanderte, fragte ich ihn um seinen Rat. Wir spazierten gerade an einem versteckten Gebirgssee vorbei, da hob er, ohne viel zu sagen, einen Stein auf und warf ihn in den See. "Was siehst du?", wollte er wissen. "Einen Stein, der ins Wasser fällt und Wellen schlägt.", gab ich zur Antwort. "Genau das ist es. Der Stein fällt ins Wasser und verbreitet Wellen. Sie strömen vom Zentrum aus und erreichen schließlich den ganzen See bis zum Rand. Weiter von dort entfernt, wo der Stein ins Wasser gefallen ist, sind die Wellen nicht mehr so stark, aber du siehst und spürst sie immer noch. Genauso wird es mit deiner Wanderung und Umweltkampagne sein. Du wirst gehen und alleine deswegen setzt du ein Zeichen, das bis in den letzten Winkel der Welt strömt. Mach dir als nie Sorgen, dass dein Handeln keinen Sinn hätte, es hat viel mehr Bedeutung, als dir im Augenblick bewusst sein mag."

"Der Weltenwanderer" - Gregor Sieböck

02.12.2012

Anti-Held


Selbst heute noch, nach so vielen Jahren, kommt mir dies alles irgendwie übel vor. Manches kommt mir jetzt übel vor, aber... sollte ich nicht hier meine "Aufzeichnungen" abbrechen? Ich glaube, es war ein Fehler, daß ich sie überhaupt begonnen habe. Wenigstens habe ich mich während des Schreibens dieser Novelle die ganze Zeit geschämt: also ist es nicht mehr Literatur, sondern Korrektionsstrafe. Denn lange Geschichten darüber erzählen, wie ich das Leben verfehlt habe durch moralische Zersetzung in meinem Winkel, durch Mangel einer Außenwelt, durch Entwöhnung von allem Lebendigen und durch sorgfältig gepflegte Bosheit im Kellerloch - das ist bei Gott wenig unterhaltend; ein Roman verlangt einen Helden, hier aber sind absichtlich alle Eigenschaften eines Anti-Helden zusammengetragen, vor allen Dingen wird das Ganze einen äußerst unangenehmen Eindruck hervorrufen, haben wir uns doch alle des Lebens entwöhnt, alle hinken wir, der eine mehr, der andere weniger. Haben wir uns doch so sehr entwöhnt, daß uns mitunter vor dem wirklichen >lebendigen Leben< beinahe Ekel erfaßt, und darum können wir es nicht ausstehen, wenn wir an das Leben erinnert werden. Sind wir doch so weit gekommen, daß wir das wirkliche lebendige Leben beinahe für Arbeit, fast für einen Frondienst halten und im geheimen uns vollkommen einig sind, daß es nach dem Buch besser geht. Und warum zappeln wir uns zuweilen ab, warum gebärden wir uns wie toll, worum betteln wir? Das wissen wir selbst nicht.


Aufzeichnungen aus dem Kellerloch - Fjodor M. Dostojewskij

18.11.2012

weißer Rauch

Midori Kobayashi und ich setzten uns auf eine Parkbank mit Blick auf das Schulgebäude. Die Mauern waren mit Efeu überwachsen und Tauben hockten in den Erkern und ruhten sich aus. Der Kasten hatte Charme. Eine große Eiche stand im Hof und an einer Seite stieg kerzengerade weißer Rauch auf, den das spätsommerliche Licht weich und bauschig erscheinen ließ.
"Weißt du woher der Rauch da kommt?", fragte mich Midori auf einmal.
"Keine Ahnung."
"Da werden Binden verbrannt."
"Aha." Eine bessere Bemerkung fiel mir dazu nicht ein.
"Damenbinden, Tampons und so was," sagte Midori grinsend. "Alle werfen sie in die Behälter in der Toilette. Immerhin ist es ja eine Mädchenschule. Der Hausmeister sammelt sie dann ein und verbrennt sie in der Verbrennungsanlage. Daher kommt der Rauch."
"Wenn man das weiß, sieht er irgendwie unheimlich aus", sagte ich.
"Und wie. Das habe ich auch immer gedacht, wenn ich vom Klassenzimmerfenster aus den Rauch aufsteigen sah. Unheimlich. Auf diese Schule - Mittelstufe und Oberstufe zusammengenommen - gehen fast tausend Mädchen. Natürlich haben ein paar davon noch nicht ihre Periode. Also sagen wir neunhundert und wenn ein Fünftel von den neunhundert gleichzeitig menstruiert, macht das einhundertachtzig Mädchen. Das bedeutet, täglich werfen einhundertachtzig Mädchen ihre Binden in die Behälter."
"Donnerwetter. Auch wenn ich nicht ganz sicher bin, ob diese Zahlen stimmen."
"Auf jeden Fall sind es viele. Hundertachtzig Mädchen! Wie das wohl ist, das ganze Zeug einzusammeln und zu verbennen?"
"Keine Ahnung."[...]
"Hast du nächsten Sonntag Zeit?" fragte Midori.
"Ich hab dir ja schon gesagt, daß ich sonntags immer Zeit habe. Nur ab sechs muß ich arbeiten."
"Wollen wir uns dann nächsten Sonntag treffen?"
"Gut."
"Ich hole dich vormittags im Wohnheim ab, um wieviel Uhr, kann ich aber noch nicht genau sagen. Macht das was?"
"Nein, kein Problem."
"Du, Toru, weißt du was ich jetzt gern machen würde?"
"Keine Ahnung."
"Auf einem großen Bett liegen, sagte Midori. "Mich ganz gemütlich betrinken, du neben mir. Dann würdest du mich ganz langsam ausziehen. Unheimlich zärtlich. Wie eine Mutter ihr kleines Kind, so behutsam."
"Hmm", machte ich.
"Ich fühle mich wohl und ganz entspannt. Doch auf einmal... >Toru, hör auf.Ich hab dich sehr gern, aber ich bin mit jemand anderem zusammen. Ich kann das nicht. Das wäre nicht anständig, also bitte hör auf. Bitte!< Aber du hörst nicht auf."
"Aber ich würde aufhören.", wandte ich ein.
"Weiß ich doch. Aber in meiner Phantasie ist es anders.", erklärte Midori. "Dann zeigst du ihn mir, deinen Ständer. Ich halte mir sofort die Augen zu, aber ich sehe ihn trotzdem ganz kurz. >Hör auf, hör auf, ich will so ein großes, hartes Ding nicht!< rufe ich."
"Er ist gar nicht so groß. Eher Durchschnitt."
"Egal, das hier ist doch Phantasie. Also weiter. Nun machst du ein so niedergeschlagenes Gesicht, daß ich Mitleid bekomme und dich trösten will. >Ist ja gut, du armer Kerl.<"
"Und das würdest du jetzt gern machen?", sagte ich entgeistert.
"Genau."
"Oh, Mann."

Naokos Lächeln - Haruki Murakami

24.10.2012

Fader noch als Fleisch

Aber als meine Augen auf den Stapel weißer Blätter fielen, wurde ich von seinem Anblick gebannt und ich starrte mit erhobener Feder auf dieses blendende Papier: wie hart und grell es war, wie gegenwärtig. Es war nichts an ihm als Gegenwart. Die Buchstaben, die ich gerade darauf geschrieben hatte, waren noch nicht trocken, und schon gehörten sie mir nicht mehr,
"Man hatte Sorge getragen, die schändlichsten Gerüchte zu verbreiten..."
Diesen Satz hatte ich gedacht, er war zuerst ein Stückchen von mir selbst gewesen. Jetzt hatte er sich auf das Papier geprägt, bildete einen Block gegen mich. Ich erkannte ihn nicht wieder. Ich konnte ihn nicht einmal wiederdenken. Er war da, stand mir gegenüber; umsonst hätte ich in ihm ein Merkmal seiner Herkunft gesucht. Jeder andere hätte ihn schreiben können. Aber ich, ich war nicht sicher, ihn geschrieben zu haben. Die Buchstaben glänzten jetzt nicht mehr, sie waren trocken. Auch das war verschwunden: es war nichts mehr von ihrem Glanz übrig.
Was soll ich jetzt tun?[...]
Vor allem, mich nicht rühren, mich nicht rühren... Ach! Diese Schulterbewegung, ich habe sie nicht unterdrücken können... Das Ding, das wartete, ist aufgeschreckt, es ist über mich hergefallen, es strömt in mich hinein, ich bin davon angefüllt. - Es ist nichts: das Ding bin ich. Die Existenz, befreit, losgelöst, fließt in mich zurück. Ich exisitiere.
Ich sehe meine Hand, die sich auf dem Tisch ausbreitet. Sie lebt - das bin ich. Sie öffnet sich, die Finger spreizen und strecken sich. Sie liegt auf dem Rücken. Sie zeigt mir ihren fetten Bauch. Sie sieht aus wie ein umgefallenes Tier. Die Finger, das sind die Beinchen. Ich vergnüge mich damit sie zu bewegen, sehr schnell, wie die Beinchen einer Krabbe, die auf den Rücken gefallen ist. Die Krabbe ist tot: die Beinchen krümmen sich, ziehen sich auf den Bauch meiner Hand zurück. Ich sehe die Nägel - das einzige Ding an mir, das nicht lebt. Meine Hand kratzt eines ihrer Beinchen mit dem Nagel eines anderen Beinchens; Ich fühle ihr Gewicht auf dem Tisch, der ich nicht bin. Das dauert lange, lange, dieser Eindruck von Gewicht, das vergeht nicht. Es gibt keinen Grund, weshalb das vergehen sollte. Auf Dauer ist es unerträglich... Ich ziehe meine Hand zurück, ich stecke sie in die Tasche. Aber sofort spüre ich, durch den Stoff, die Wärme meines Schenkels. Sofort reiße ich meine Hand aus meiner Tasche; ich lasse sie an der Stuhllehne herunterhängen. Jetzt spüre ich ihr Gewicht am Ende meines Armes. Sie zieht ein bißchen, kaum, schlaff, schlabberig, sie existiert. Ich gebe es auf: wohin ich sie auch tue, sie wird weiter existieren und ich werde weiter fühlen, daß sie existiert; ich kann sie nicht unterdrücken, noch kann ich den Rest meines Körpers unterdrücken, weder die feuchte Wärme, die mein Hemd schmutzig macht, noch dieses ganze warme Fett, das träge kreist, als rühre man es mit dem Löffel um, noch alle diese Empfindungen, die sich darin hin und her bewegen, die kommen und gehen, die von meinen Rippen in meine Achselhöhle aufsteigen oder die von morgens bis abends still in ihrer gewohnten Ecke dahinvegetieren.
Ich springe auf: wenn ich bloß aufhören könnte zu denken, das wäre schon besser. Die Gedanken sind das Fadeste, was es gibt. Fader noch als Fleisch. Das zieht sich endlos in die Länge und hinterläßt einen komischen Geschmack.
Mein Speichel ist süß, mein Körper ist lauwarm; ich fühle mich fade. Mein Taschenmesser liegt auf dem Tisch. Ich klappe es auf. Warum nicht? Das bringt jedenfalls ein wenig Abwechslung. Ich lege meine linke Hand auf den Notizblock und stoße mir das Messer fest in die Handfläche. Die Bewegung war zu nervös: Die Klinge ist abgerutscht, die Wunde ist oberflächlich. Das blutet. Und was nun? Was hat sich geändert?[...]
Es schlägt halb fünf. Ich stehe auf, mein kaltes Hemd klebt an meinem Fleisch. Ich gehe hinaus. Warum? Nun, weil ich auch keinen Grund habe, es nicht zu tun. Auch wenn ich bleibe, auch wenn ich mich still in eine Ecke kauere, werde ich mich nicht vergessen. Ich werde da sein, ich werde auf dem Fußboden lasten. Ich bin.

Der Ekel - Jean-Paul Sartre

15.10.2012

Kommunisten und Schach


Natürlich bin ich wieder hingegangen. Ich habe die Tür aufgestoßen. Nach und nach habe ich die Mitglieder des Clubs kennengelernt. Fast alle waren Leute aus Ländern im Osten. Ungarn, Polen, Rumänien, Ostdeutsche, Jugoslawen, Tschechoslowaken, Russen, pardon, Sowjiets, verbesserten einige. Es gab auch einen Chinesen und einen Griechen. Die große Mehrheit teilte die Leidenschaft für das Schachspiel. Zwei oder drei verabscheuten es, spielten nicht und kamen trotzdem jeden Tag hierher. Sie hatten keinen anderen Ort, wo sie hingehen konnten.[...]
Sie hatten mehrere Dinge gemeinsam. Sie waren unter dramatischen oder phantasischen Umständen aus ihrer Heimat geflohen, häufig waren sie anläßlich einer geschäftlichen oder diplomatischen Reise in den Westen gegangen. Einige waren nie Kommunisten gewesen und hatten ihre Meinung jahrelang verheimlicht. Andere waren Kommunisten der ersten Stunde gewesen, zutiefst überzeugt, für das Wohl der Welt einzutreten, bevor ihnen der Schrecken des Systems bewußt wurde und sie erkannten, daß sie in ihre eigenen Falle getappt waren. Einige waren es noch immer, auch wenn sie von ihrer Partei und der kommunistischen Partei Frankeichs verleugnet und verstoßen worden waren, weil sie als Verräter galten.[...]
Sie hatten die Freiheit gewählt und dafür Frau, Kinder, Familie und Freunde aufgegeben. Deshalb gab es in diesem Club keine Frauen. Sie hatten sie in der Heimalt zurückgelassen. Sie waren Schatten, Parias, mittelos, ihre Diplome wurden nicht anerkannt. Ihre Frauen, ihre Kinder und ihr Land befanden sich in einer Ecke ihres Kopfes und ihres Herzens. Sie blieben ihnen treu.[...] Sie besaßen nichts, sie waren nichts, sie waren am Leben. Wie ein Leitmotiv kehrte es bei ihnen immer wieder: "Wir sind am Leben, und wir sind frei." Wie mir eines Tages Sascha sagte: "Der Unterschied zwischen uns und den anderen ist, daß sie leben und daß wir überlebt haben. Wenn man überlebt hat, hat man nicht das Recht, sich über sein Los zu beklagen, das wäre eine Beleidigung derer, die dageblieben sind." [...]

Ich ließ meine Kickerfreunde sitzen und wurde das jüngste Mitglied des Clubs. Ich freundete mich mit Igor Markish an, einem russischen Arzt, der mir Schachspielen beibrachte. Er hatte in Leningrad einen Sohn meines Alters. Er stellte mich seinem Kumpel Kessel vor, mit dem er russisch sprach. Auf diese Weise habe ich auch Sartre kennengelernt. Was ich von ihm erzählen kann, wiederspricht allen Biographien. Sartre scherzte, war ein Spaßmacher, schummelte beim Schachspiel, indem er Bauern stibitzte und in Lachen ausbrach, wenn Kessel ihn überraschte und sich wundere, wo sein Springer auf f5 abgeblieben war. Er kam nicht oft. Er spürte die Feindschaft mehrerer Clubmitglieder, die ihm seine Sympathie für den Kommunismus vorwafen, aber dennoch sein Geld annahmen. Er schrieb den ganzen Nachmittag auf einen Papierblock, ohne den Kopf zu heben, in seine Arbeit vertieft, seine Zigarette bis zum Filter aufrauchend, und niemand wagte es, ihn zu stören. Wir betrachteten ihn mit gewisser Scheu von ferne und hatten den Eindruck, privilegierte Zeugen eines Schaffensprozess zu sein und selbst die , die ihn nicht mochten, achteten darauf, daß Stille herrschte.
"Macht keinen Lärm. Sartre arbeitet."

Der Club der unverbesserlichen Optimisten - Jean-Michel Guenassia

22.09.2012

zu zeichnen begann

Sein unförmiger Körper, der aufgedunsene Bauch, die dicken Schenkel, die behaarte Brust und der breite, schlaffe Hintern, das alles schien ihm nichts auszumachen, so ruhig saß er da und ließ sich von ihr zeichnen, von Unbehagen oder Schüchternheit war ihm nichts anzumerken, und als sie ihn nach zehn Minuten fragte, wie es ihm gehe, sagte er, gut, er vertraue ihr, er hätte nie gedacht, dass er sich so wohlfühlen könnte, wenn jemand ihn so ansehe. Das Zimmer war klein, sie saßen nur gut einen Meter voneinander entfernt und als sie zum ersten Mal seinen Penis zu zeichnen begann, kam ihr der Gedanke, dass sie eigentlich keinen Penis mehr betrachtete, sondern einen Schwanz, dass Penis das Wort für das Ding auf der Zeichnung sei, Schwanz hingegen das Wort für das Ding da einen Meter vor ihren Augen, und wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass Bing einen schönen Schwanz hatte, weder länger noch kürzer als die Mehrheit derer, die sie in ihrem Leben gesehen hatte, aber dicker als die meisten, gut geformt und ohne Besonderheiten oder Schönheitsfehler, ein vorzügliches Exemplar männlicher Auststattung, nicht das was man einen Belistiftschwanz nennt, sondern ein voluminöser Füllfederhalter, ein gediegener Pfropfen für jegliche Körperöffnung.
Als sie ihn ihn mitten in der dritten Skizze fragte, ob er was dagegen hätte, ein wenig an sich herumzuspielen, es interessiere sie, wie es aussehe, wenn er steif werde, antwortete er, kein Problem, es mache ihn sowieso ziemlich scharf, so für sie zu posieren, da habe er auch überhaupt nichts dagegen. Während der vierten Zeichnung bat sie ihn, für sie zu masturbieren und wieder gehorchte er bereitwillig, fragte aber zur Sicherheit nach, ob sie sich nicht lieber auch ausziehen und ihn zu sich aufs Bett lassen würde, was sie jedoch mit Nein beantwortete, sie wolle ihre Sachen lieber anbehalten und weiterzeichnen, aber wenn er im letzten Moment vom Stuhl aufstehen, zu ihr ans Bett treten und sich in ihren Mund entladen wolle, habe sie dagegen nichts einzuwenden.

Sunset Park - Paul Auster

13.09.2012

Die Scheibenwelt


Zweiblum griff nach den Gitterstäben und zog sich hoch.
"Siehst du was?", erklang Hruns Stimme weiter unten.
"Nur Wolken"
Der Barbar ließ ihn herab und nahm auf der Kante eines hölzernen Bettes Platz. Abgesehen von den beiden Liegen enthielt die Kammer keine weiteren Einrichtungsgegestände. "Verdammer Mist", sagte er.
"Gib dich nicht der Verzweiflung hin", erwiederte Zweiblum.
"Verzweiflung? Was ist das?"
"Bestimmt handelt es sich um ein Mißverständnis. Ich nehme an, man läßt uns bald frei. Die Leute hier scheinen recht zivilisiert zu sein."
Hrun wölbte buschige Augenbrauen und musterte den Touristen. Er setzte zu einer Antwort an, überlegte es sich dann anders und seufzte. [...]
"Was passiert jetzt?, fragte Zweiblum.
Hrun bohrte sich im Ohr und betrachtete anschließend den Zeigefinger.
"Oh", meinte er,"ich schätze, gleich öffnet sich die Tür, und dann bringt man mich in eine Arena, wo ich gegen zwei Riesenspinnen und einen achtfüßigen Sklaven aus Klatsch kämpfen muss. Anschließend rette ich irgendeine Prinzessin vom Opferaltar und töte den ein oder anderen Wächter, woraufhin mir die junge Frau einen nach draußen führenden Geheimgang zeigt. Wir schnappen uns zwei Pferde und entkommen mit dem Schatz." Hrun faltete die Hände hinterm Kopf, sah zur Decke hoch und summte leise vor sich hin.
"Glaubst du wirklich, dass soviel geschehen wird?"
"Würde mich überhaupt nicht überraschen."

Die Scheibenwelt ruht auf den breiten vom Sternenschimmer gebräunten Schultern von vier riesigen Elefanten, die ihrerseits auf dem Rücken einer durchs All wandernden gewaltigen Schildkröte namens Groß-A'Tuin stehen. Frühe Astrouoologen sammelten viele Informationen über Gestalt und Natur A'Tuins und der Elefanten, aber grundsätzliche Fragen nach Sinn und Zweck des Universums vleiben unbeantwortet. Zum Beispiel: War A'Tuin weiblichen oder männlichen Geschlechts? Die Astrozoologen wiesen daraufhin, dass man in dieser Hinsicht nur mit Hilfe eines noch größeren und leistungsfähigeren Flaschenzuggerüsts Aufschluß gewinnen könnte. - Seit 1983 sind bereits über 50 Bücher über das Leben auf der Scheibenwelt veröffentlicht worden.

Die Farben der Magie - Terry Patchett