12.10.2014

in dir selber

Wenn man zusieht, wie zwei moderne Durchschnittsmenschen, die sich eben erst durch Zufall kennen lernen und eigentlich gar nichts Materielles voneinander begehren - wie diese zwei sich gegeneinander benehmen, dann fühlt man es beinahe sinnlich, wie dicht jeder Mensch von einer zwingenden Atmosphäre, von einer Schutzkruste und Abwehrschicht umgeben ist, von einem Netz gewoben aus lauter Ablenkungen und Wünschen, die alle auf unwesentliche Ziele hingerichtet sind, die ihn von allen anderen trennen. Es ist, als dürfe die Seele nur ja nicht zu Wort kommen, als sei es notwendig, sie ganz mit hohen Zäunen zu umgeben, mit Zäunen der Angst und der Scham. Nur die wunschlose Liebe vermag dies Netz zu durchbrechen. Und überall, wo es durchbrochen wird, blickt Seele uns an.

Sitze in der Eisenbahn und beachte zwei Herren, die einander begrüßen, weil der Zufall sie für eine Stunde zu Nachbarn gemacht hat. Ihre Begrüßung ist unendlich merkwürdig, beinahe ein Trauerspiel. Aus Urfernen der Fremde, Kälte, aus einsamen vereisten Polen her scheinen diese harmlosen Leute einander zu begrüßen, sie scheinen jeder für sich in einer Festung von Stolz, gefährdetem Stolz, von Argwohn und Kühle zu wohnen. 
Wohl auch hat auch das Volk der Malaie und Ureinwohner Seele und zeigt in Gruß und Anrede mehr Seele als der Durchschnittsmann bei uns. Aber seine Seele ist nicht die, die wir suchen wollen, obwohl auch sie uns lieb und nah verwandt ist. Die Seele des Primitiven, der noch keine Entfremdung, keine Mühsal einer entgötterten und mechanisierten Welt kennt, ist eine kollektive, schlichte, kindliche Seele, etwas Schönes und Liebliches, aber nicht unser Ziel. Unsere beiden jungen Europäer im Bahnwagen sind schon weiter. Sie zeigen wenig Seele oder gar keine, sie scheinen ganz aus organisiertem Wollen, aus Verstand, Absicht, Plan zu bestehen. Sie haben ihre Seele verloren in der Welt des Geldes, der Maschinen, des Misstrauens. Sie sollen sie wiederfinden und sie werden krank werden und leiden, wenn sie die Aufgabe versäumen. Aber was sie dann haben werden, wird nicht die verlorene Kinderseele mehr sein sondern eine weit feinere, weit persönlichere, weit freiere und verantwortungsfähigere. Nicht zum Kinde, zum Primitiven zurück sollen wir, sondern weiter, vorwärts, zu Persönlichkeit, Verantwortlichkeit, Freiheit.

Frage deine Seele! Frage sie, die Zukunft bedeutet, die Liebe heißt! Frage nicht deinen Verstand, suche nicht die Weltgeschichte nach rückwärts durch! Deine Seele wird dich nicht anklagen, du habest dich zu wenig um Politik gekümmert, habest zu wenig gearbeitet, die Feinde zu wenig gehaßt, die Grenzen zu wenig befestigt. Aber sie wird vielleicht klagen, du habest allzu oft vor ihren Forderungen Angst gehabt und dich geflüchtet, du habest nie Zeit gehabt. Und so sei es Millionen gegangen und wohin man blicke, da machen die Menschen nervöse, gequälte, böse Gesichter, hätten keine Zeit außer fürs Unnütze, für Börse und Sanatorium.

Von hier aus betrachtet, sieht Europa aus wie ein Schläfer, der in Angstträumen um sich haut und sich selber verletzt. Ja, erinnerst du dich, dass ein Professor dir einmal Ähnliches gesagt hat, dass die Welt am Materialismus und am Intellektualismus leide. Der Mann hat recht, aber er wird dein Arzt nicht sein können, so wenig wie sein eigener. Bei ihm redet die Intelligenz bis zur Selbstvernichtung weiter.
Möge der Weltlauf gehen, wie er wolle, einen Arzt und Helfer, eine Zukunft und neuen Antrieb wirst du immer nur in dir selber finden, in deiner armen, mißhandelten, geschmeidigen, nicht zu vernichtenden Seele. In ihr ist kein Wissen, kein Urteil, kein Programm. In ihr ist bloß Trieb, bloß Zukunft, bloß Gefühl. Ihr sind die großen Heiligen und Prediger gefolgt, die Helden und Dulder, ihr die großen Feldherren und Eroberer, ihr die großen Zauberer und Künstler.

Kurz, es kommt, wenn ein Mensch das Bedürfnis hat, sein Leben zu rechtfertigen, nicht auf eine objektive, allgemeine Höhe der Leistung an, sondern eben darauf, dass er sein Wesen, das ihm Mitgegebene, so völlig und rein wie möglich in seinem Leben und Tun zur Darstellung bringe.

"In jedem Anfang wohnt ein Zauber inne" - Hermann Hesse

Keine Kommentare :

Kommentar veröffentlichen