17.09.2013

Sie sollen sein wie Che

      Fidel Castro und Ernesto "Che" Guevara in der Gefängniszelle 
      in Mexiko; vermutlich das erste Photo, auf dem beide 
      gemeinsam abgebildet sind.
"Es war eine Art ideale Vision des sozialistischen Menschen, dem materielles Gewinndenken völlig fremd geworden war, der für die Gesellschaft und nicht für Gewinn arbeitete. Die Erfolge der sowjetischen Industrie betrachtete er sehr kritisch, denn dort, so sagte er, arbeitet jeder und bemüht sich, seine Norm überzuerfüllen, aber nur um mehr Geld zu verdienen. Er fand, der sowjetische Mensch sei kein neuer Mensch, denn er unterscheide sich im Grunde nicht von den Yankees. Er weigerte sich, bewußt an der Schaffung einer zweiten amerikanischen Gesellschaft in Kuba mitzuwirken.", schreibt Dumont. Er hatte den Eindruck, Che wollte beim
sozialistischen Umbau der kubanischen Gesellschaft "Stufen überspringen", so wie es Mao in China 1956 mit den Zwangskollektivierungen bei seinem "Großem Sprung nach vorn" versucht hatte. "Kurz gesagt, Che war seiner Zeit weit voraus - in Gedanken hatte er bereits das Stadium des Kommunismus erreicht."

Am Morgen des 3. Juli eilte Che nach Altos de Merino, um einen Angriff der Regierungstruppen abzuwehren. "Als ich eintraf, war die Vorhut bereits im Anmarsch. Es kam zu einem kleinen Gefecht, und sie kreisten uns ein, doch wir leisteten kaum Widerstand. Mich überkam ein mir völlig neues Gefühl: Ich wollte überleben. Das muß ich bei der nächsten Gelegenheit korrigieren."
Es gibt sicher nicht viele Menschen, die in einer solchen Situation zu einer derart selbstkritischen Haltung fähig sind. Doch dies war die Lebenshaltung Ernesto Guevara in seiner neuen Identität als Che. Und damit unterschied er sich deutlich von der überwiegenden Mehrheit seiner Kameraden, die auch im Kampf noch zu Überleben hofften.

Wie Sartre feststelle, waren die "Flitterwochen" der Revolution Ende 1960 vorüber, und nach den Maßstäben einer Revolution war seither eine lange Zeit verstrichen. Che war inzwischen kein junger Mann mehr; er war Vater von vier Kindern und als Minister auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn im revlotutionären Kuba. 
Ches Beziehung zu Aleida gab vielen ein Rätsel auf, denn einen größeren Gegensatz als zwischen den beiden hätte man sch kaum vorstellen können. Che war ein intelektueller, ein Wissenschaftler und fleißiger Leser. Aleida liebte Filme und gesellschaftliche Ereignisse. Er war ein Asket und versagte such nach dem Komfort, den fast alle Frauen der anderen commandantes genossen. - selbst im revolutionären Kuba. Zu Hause schloß Che sich stundenlang in seinem kargen kleinen Arbeitszimmer voller Bücher ein, las, schrieb und studierte. Der einzige Schmuck in der Dachkammer bestand aus einem Bronzerelief Lenins. Wenn er gefragt wurde, warum er keine Pause einlege, verwies er auf die Arbeit, die er zu bewältigen habe. Nie hatte er genügend Zeit für Aleida udn die Kinder. Meist rief die Pflicht und seine Reisen, auf denen ihn Aleida nie begleiten durfte, dauerten stets lange. Seine Arbeitswoche dauerte von Montag bis Samstag, die Nächte eingeschlossen, und am Sonntag vormittag nahm er an freiwilligen Arbeitseinsätzen teill. Nur der Sonntagnachmittag war der Familie vorbehalten. Dann lag er auf dem Boden des Wohnzimmers und spielte mit seinen Kindern und ihrem deutsche Schäferhund Muralla (Wand), der auch ins Büro mitnahm.

Am Abend des 18. Oktober sprach Fidel auf der Plaza de la Revolucion in Havanna vor fast einer Million Menschen. Mit vor Bewegung heiserer Stimme beschrieb Fidel seinen alten Genossen als Verkörperung der revolutionären Tugenden. "Wenn wir einen Menschen zeichnen wollen, der nicht in unsere Zeit gehört, sondern in die Zukunft, dann erkläre ich aus vollem Herzen, daß dieser Mensch Che ist, ein Mensch ohne Makel, ohne einen einzigen Makel in seinem Verhalten. Und wenn wir beschrieben wollen, wie wir uns unsere Kinder wünschen, dann rufen wir, die leidenschaftlichen Revolutionäre, voller Inbrunst: Sie sollen sein wie Che!"

"Che - Die Biographie" - John Lee Anderson

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